Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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ist die natürliche Erbfolge, die dem einzelnen ein- 
geräumte Testierfreiheit dagegen ein Mittel, die 
starre Gesetzesregel der Sachlage anzupassen oder 
besonderer Umstände wegen durch eine passendere 
Anordnung zu ersetzen. Hierdurch erhebt sich die 
Ordnung der Familienerbfolge entsprechend der 
menschlichen Natur aus dem Bereich eines (unter 
Eintritt bestimmter Bedingungen bestimmte Wir- 
kungen hervorbringenden) Naturgesetzes zur Höhe 
eines natürlichen Sittengesetzes, welches der Mensch 
aus freier Selbstentscheidung im Gebrauch seiner 
Vernunft zu erfüllen hat. 
2. Der Beginn des römischen Erbrechts 
zeigt familienrechtliche Züge, aber unter auffallend 
starker Betonung der Macht des Hausvaters. Die 
Einheit seiner Gewalt begründet die Einheit der 
Familie. Die Gesamtheit derjenigen, welche unter 
derselben hausväterlichen Gewalt stehen oder unter 
derselben Gewalt des gemeinschaftlichen Stamm- 
vaters stehen würden, wenn dieser noch lebte, wird 
als Agnaten bezeichnet. Die verheiratete Tochter 
tritt in die Familie ihres Mannes; auch der aus 
der väterlichen Gewalt entlassene Sohn gehört 
nicht mehr zu den Agnaten. Die nächsten Agnaten 
sind diejenigen, welche ohne Mittelsperson der 
hausväterlichen Gewalt unterstehen (Hauskinder). 
Diese unmittelbar der väterlichen Gewalt unter- 
worfenen Abkömmlinge gelangen durch den Tod 
nicht so fast zur Erbschaft als zur freien Herrschaft 
über das Familiengut. In Ermanglung von 
Hauskindern werden die nächsten Agnaten berufen, 
dann die (durch den gemeinsamen Geschlechtsnamen 
kenntlichen) Gentilen. 
Die Testierfreiheit diente anfangs zur Ergän- 
zung des natürlichen Erbrechts der Familie. Ihre 
Benutzung schlug mit dem Schwinden der guten 
Sitten in Mißbrauch um. Die Lockerung der 
Familienbande führte zu letztwilligen Härten gegen 
Angehörige, und dadurch wurde die Gesetzgebung 
zu Schutzbestimmungen gezwungen, die sich an- 
fangs nicht etwa gegen die Herzlosigkeit des Vaters, 
sondern nur gegen die Möglichkeit eines Irrtums 
richteten. Nächste Angehörige mußten nämlich 
zur Vermeidung eines Mißverständnisses im Te- 
stament ausdrücklich eingesetzt oder ausdrücklich 
ausgeschlossen sein. 
Als sich die Testamente häuften, stellte sich die 
Notwendigkeit eines kräftigeren Schutzes ein. Man 
beschränkte die Summe, die Fremde beim Vor- 
handensein Verwandter erben durften. Man gab 
einem Angehörigen, dem der Erblasser nicht einmal 
den vierten Teil des ihm nach Intestaterbrecht 
zukommenden Anteils zuwendete, ein Klagerecht 
(Lex Falcidia, 40 v. Chr.). Als diese Bestim- 
mung durch Fideikommisse umgangen wurde, 
dehnte das Senatusconsultum Pegasianum 
unter Vespasian jene Quart auch auf diese aus. 
Bei der Frage, wer durch Pflichtteilsrecht geschützt 
werden solle, wurde nicht mehr die alte, zerfallene 
Agnatenfamilie, sondern die Blutsverwandtschaft 
(Kognaten) berücksichtigt. 
Erbrecht. 
  
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Mit dem Überwiegen der Testamentserbfolge 
hängt die juristische Fassung des Erbschaftserwerbs 
zusammen. Er bedarf der Zustimmung des Erben. 
Der Nachlaß wird wie eine vorfindliche Geld- 
summe behandelt. Von Sonderbehandlung der 
von Natur aus für so verschiedene Zwecke be- 
stimmten Vermögensstücke ist keine Rede, ebenso- 
wenig von der Erleichterung der Möglichkeit für 
Miterben, beisammen zu bleiben. Jeder einzelne 
kann auf Teilung dringen, kann über Nachlaßstücke 
nach Verhältnis seines Anrechts verfügen und 
wegen seiner Quote verklagt werden. Die Erben- 
haftung für die Nachlaßschulden beruhte auf der 
strengen Hausgewalt. Der sich aus der Verstrickung 
nicht lösende Schuldner verfiel mit seiner ganzen 
Existenz dem Gläubiger. Nach des Schuldners 
Tod blieb also auch das Hauskind verfallen. Dem 
eigenen Kind war der ursprünglich durch Adoption 
entstandene testamentarische Erbe nachgebildet. 
Auch er haftete für die Schulden (das beneficium 
inventarü ist spätrömisch). 
Das jüngere römische Recht bemühte sich, für 
die Familie und fürchristliche Ideen einzutreten. 
So bestimmte Justinians Novelle 115 (vom Jahr 
541), Aszendenten und Deszendenten müssen ein- 
ander zu Erben ernennen, widrigenfalls die letzt- 
willige Verfügung, mag der Pflichtteil auch voll- 
ständig hinterlassen sein, keine Kraft hat: die 
gesetzliche Erbfolge tritt ein; der übrige Teil des 
Testaments bleibt bestehen. Die Ernennung zum 
Erben darf nur unter Angabe des Grundes und 
aus den Gründen, welche hierfür im Gesetz be- 
zeichnet sind, unterlassen und der Pflichtteil ent- 
zogen werden. Die gerichtliche Testamentseröffnung 
wurde Regel. Weitere Durchbrechungen des klas- 
sischen Rechts zeigen die verschiedenen beneticia 
und die Ausnahmen für die sich allmählich wieder 
bildenden Stände. Die Stände des absoluten 
Staates sind Militär, Beamte, Klerus; in ihnen 
kam endlich die Arbeit wieder zu Ehren. Für das 
Militärerbrecht gab es Ausnahmen. Auch finden 
sich Spuren militärischer, genossenschaftlicher und 
kirchlicher Heimfallsrechte. Von dem kaiserlichen 
Eifer für christliche Ideen (allerdings nicht ohne 
Byzantinismus) zeugt die allgemeine, also auch erb- 
rechtliche Zurücksetzung der Sekten, z. B. der Mani- 
chäer, und die Bevorzugung der piae causae, wäh- 
rendin der (klassischen) Zeitdes Individualismus die 
juristischen Personen nicht eimmal erbfähig waren. 
3. Das älteste germanische Erbrecht ist 
bei der Mangelhaftigkeit der Quellen in hohem 
Maß streitig. Nach dem Bericht von Tacitus be- 
stand damals nur gesetzliche Erbfolge; aber schon 
die Lex Salica kennt neben ihr die vertragsmäßige. 
Daneben kennt das deutsche Recht im Gegensatz 
zur römischen Universalsukzession eine verschiedene 
Erbfolge in die verschiedenen Vermögensbestand- 
teile. Das älteste Erbrecht beschränkt sich auf die 
Hausgenossen, die zu ungeteiltem Gut in Ge- 
wehrschaft leben. Stirbt einer, so wächst sein An- 
teil den andern zu. Die aus der Gemeinschaft
	        
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