Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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gierungen muß der Grundsatz leitend bleiben, 
niemanden in dem Genuß seines Eigentums, 
seiner bürgerlichen Gerechtsame und Freiheit, so- 
lange er in den gesetzlichen Grenzen bleibt, weiter 
einzuschränken, als es zur Beförderung des allge- 
meinen Wohles nötig ist; einem jeden innerhalb 
der gesetzlichen Schranken die möglichst freie Ent- 
wicklung und Anwendung seiner Anlagen, Fähig- 
keiten und Kräfte, in moralischer sowohl als phy- 
sischer Hinsicht, zu gestatten und alle dagegen noch 
obwaltenden Hindernisse baldmöglichst auf eine 
legale Weise zu räumen.“ Bezüglich der Hand- 
habung der Gewerbepolizei sprach sich die genannte 
Instruktion (im § 50) unter anderem dahin aus: 
„Es ist dem Staate und seinen einzelnen Gliedern 
immer am zuträglichsten, die Gewerbe jedesmal 
ihrem natürlichen Gange zu überlassen, d. h. keine 
derselben vorzugsweise durch besondere Unter- 
stützungen zu begünstigen und zu heben, aber auch 
keine in ihrem Entstehen, ihrem Betriebe und Aus- 
breiten zu beschränken, insofern das Rechtsprinzip 
dabei nicht verletzt wird oder sie nicht gegen Re- 
ligion, gute Sitten und Staatsverfassung ver- 
stoßen. Es ist falsch, das Gewerbe an einem Ort 
auf eine bestimmte Anzahl von Subjekten ein- 
schränken zu wollen. Niemand wird dasselbe unter- 
nehmen, wenn er dabei nicht Vorteil zu finden 
glaubt, und findet er diesen, so ist es ein Beweis, 
daß das Publikum seiner noch bedarf; findet er 
ihn nicht, so wird er das Gewerbe von selbst auf- 
geben. Man gestatte daher einem jeden, solange 
er die vorbemerkte Grenzlinie nicht überschreitet, 
sein eigenes Interesse auf seinem eigenen Wege zu 
verfolgen und sowohl seinen Fleiß als sein Kapital 
in die freieste Konkurrenz mit dem Fleiße und 
Kapital seiner Mitbürger zu bringen. Ihr (der 
Regierung) Augenmerk muß dahin gehen, die Ge- 
werbe= und Handelsfreiheit soviel als möglich zu 
befördern und darauf Bedacht zu nehmen, daß 
die verschiedenen Beschränkungen, denen sie noch 
unterworfen ist, abgeschafft werden, jedoch nur 
allmählich auf eine loyale Weise und selbst mit 
möglichster Schonung des Vorurteils, da jede 
neue Einrichtung mit Reibungen verbunden ist und 
ein zu schneller Ubergang vom Zwang zur Frei- 
heit manchmal nachteiligere Folgen hervorbringt 
als der Zwang selbst. Auf keinen Fall aber müssen 
die Regierungen von jetzt ab Konzessionen oder 
Berechtigungen zu Gewerben, von welcher Gattung 
diese sein mögen, erteilen, durch welche ein Ex- 
klusiv= oder gar Zwangs= und Bannrecht begrün- 
det werden soll.“ 
Durchgreifendere Bestimmungen enthielt das 
Edikt vom 2. Nov. 1810. Dasselbe hob jeden 
Unterschied bezüglich des Gewerbebetriebs zwischen 
Stadt und Land sowie alle bis dahin den Zünften 
und Innungen oder einzelnen Privatpersonen zu- 
gestandenen oder mit dem Besitze von Grundstücken 
verbundenen Vorrechte auf und machte, lediglich 
aus finanziellen Rücksichten, den gewerbsmäßigen 
Betrieb des Handels, der Fabriken und Hand- 
Gewerbe usfw. 
  
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werke, der Künste und Wissenschaften von der 
Lösung eines Gewerbescheins, eines sog. Paten- 
tes selbst für diejenigen abhängig, welche das 
Meisterrecht erlangt hatten oder eine Konzession 
besaßen. 
Die einheitliche Gewerbeordnung für 
Preußen vom 17. Jan. 1845 hielt zwar im 
wesentlichen an den Prinzipien der Gewerbegesetz- 
gebung des Jahres 1810 fest, suchte aber in den 
Innungen eine neue, dem Gewerbewesen förderliche 
korporative Organisation der Gewerbetreibenden 
auf sittlicher Grundlage herbeizuführen. — Eine 
weitgehende Beschränkung der Gewerbefreiheit im 
Interesse der Erhaltung und Kräftigung des Hand- 
werkerstandes brachte dann wieder die königliche 
Verordnung vom 9. Febr. 1849 betreffend die 
Errichtung von Gewerberäten und verschiedene 
Abänderungen der allgemeinen Gewerbeordnung. 
Durch sie wurde der selbständige handwerksmäßige 
Gewerbebetrieb bei einer sehr großen Zahl von 
Handwerksgewerben abhängig gemacht von der 
Zugehörigkeit zu einer Innung nach vorherigem 
Nachweise der Befähigung oder dem Nachweis der 
Befähigung vor einer Prüfungskommission. 
Nach dem deutsch-österreichischen Kriege kehrte 
Preußen in den für die neuerworbenen Gebiete 
erlassenen Verordnungen vom 29. März, 9. Aug. 
und 23. Sept. 1837 zu dem Grundsatze der Ge- 
werbefreiheit zurück, welchen Nassau, Bremen, 
Sachsen, Oldenburg, Württemberg, Baden, Frank- 
furt a. M., Braunschweig, Hamburg bereits früher 
(seit 1860) zur Durchführung gebracht hatten, 
während Bayern 1868 folgte. 
Für das Deutsche Reich sind jetzt die recht- 
lichen Verhältnisse des Gewerbes einheitlich durch 
eine Gewerbeordnung geregelt. Bevor diese 
hier einer Darstellung unterzogen wird, ist jedoch 
der Hinweis notwendig, daß sich der heutige tech- 
nisch-juristische Begriff des Gewerbes als Gegen- 
stand der Gewerbegesetzgebung keineswegs mit der 
oben gegebenen volkswirtschaftlichen Begriffsbe- 
stimmung deckt. Der heutige Gewerbebegriff als 
Gegenstand gesetzgeberischer Reglung hat sich auf 
Grund des ursprünglichen Gegensatzes zwischen 
„städtischer“ und „ländlicher“ Erwerbstätigkeit 
herausgebildet, so daß Landwirtschaft, Jagd, 
Fischerei, Forstwirtschaft und Bergbau, also die 
sog. Urproduktion zwar nicht, wohl aber die 
nur dem Güterumsatz dienenden Erwerbszweige, 
Handel und Transportwesen, mehr oder weniger 
auch Gegenstand der Gewerbegesetzgebung sind. 
Daneben gibt es heute allerdings auch eine selb- 
ständige Handelsgesetzgebung. 
Den Ausgangspunkt der einheitlichen deutschen 
Gewerbeordnung bildet der Artikel 3 der Reichs- 
verfassung, wonach für ganz Deutschland ein ge- 
meinsames Indigenat mit der Wirkung besteht, 
daß der Angehörige eines jeden Bundesstaates in 
jedem andern Bundesstaate als Inländer zu be- 
handeln, demgemäß zum Gewerbebetrieb unter 
denselben Voraussetzungen wie der Einheimische 
 
	        
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