Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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tretenden Kinder werden abgeschichtet. Unterbleibt 
die Abschichtung, so erben sie. Nach den ältesten 
Quellen erben bereits Kinder, Eltern (Schoßfall), 
Geschwister, Oheime väterlicher und mütterlicher 
Seite. Demnächst erben noch weitere Verwandte 
nach der Parentelenordnung. Dabei besteht ein 
Vorzug der Männer, der Sohn schließt die Tochter 
aus, der Vater die Mutter, der Bruder die Schwe- 
ster, oder die Männer bekommen den Frauen gegen- 
über doppelten Erbteil (Schwertteil — Kuntelteil). 
Dabei bestehen bei den einzelnen Stämmen große 
Verschiedenheiten. Die Fortdauer des Hausver- 
bands zeigte sich besonders darin, daß die Söhne 
eines Vaters nach des Vaters Tod und nach eigener 
Heirat in Hausgemeinschaft blieben. Häufiger 
jedoch übernahm einer der Söhne den väterlichen 
Hos, wodurch die andern gezwungen wurden, sich 
neu anzusiedeln. Im Prinzip erben desungeachtet 
gleichnahe Erben zu gleichen Teilen. Seit dem 
6. Jahrh. kommt bei einzelnen Stämmen das Re- 
präsentationsrecht der Enkel, seit 1521 das der 
Geschwisterkinder zur Anerkennung. 
In die adligen Stammgüter, die Familien= 
fideikommisse und die Lehen sowie in die geschlos- 
senen Bauerngüter fand eine besondere Erbfolge 
statt. Die Stammgüter (bona stemmatica 8. 
aviatica) vererbten in der adligen Familie nach 
agnatischer Individualsukzession. Die Erbfolge 
war Majorat oder Minorat, Seniorat oder Primo= 
genitur. Die Familienfideikommisse sind kraft be- 
sonderer, meist letztwilliger Errichtung nach be- 
ondern Grundsätzen auf Grund von Individual- 
ukzession in einer Familie vererbende Grundstücke 
oder Kapitalien, deren Veräußerung oder Belastung 
nur mit Konsens aller Anwärter in der Familie 
statthaft ist. 
Erworben wird die Erbschaft ipso iure, der 
Tote erbt den Lebendigen, die römische hereditas 
iacens war den germanischen Rechten unbekannt. 
Für die Erbteilung galt im ältern Recht der Satz, 
daß der Alteste teilt, der Jüngste kürt. Für Schul- 
den des Erblassers haftet nach älterem Recht der 
Erbe nur mit dem Mobiliarnachlaß, für Spiel- 
schulden, Bürgschaften, Schenkungen überhaupt 
nicht; seit dem 13. Jahrh. wird auch mit den 
Grundstücken gehaftet. Verzicht auf die Erbschaft 
befreit von der Haftung. 
Die vertragsmäßige Verfügung unter Lebenden 
über den dereinstigen Nachlaß geschah durch die 
Übertragung des Vermögens an einen Treuhänder 
(Salman) vor Gericht (Affatomie). An die Stelle 
der Übertragung trat später die Bevollmächtigung 
des Salmans unter Abschluß eines dinglichen Ver- 
trags (Gemächte). 
Einseitige letztwillige Verfügungen sind zuerst 
als „Seelgeräte" (Meßstiftungen) bekannt, werden 
aber seit dem 13. Jahrh. vor Gericht oder Rat 
gestattet. In den Testamenten werden für die Auf- 
gaben des Salmans Testamentsexekutoren zur 
Beaussichtigung oder auch zur Durchführung der 
Nachlaßteilung bestellt. Neben dem widerruflichen 
  
Erbrecht. 
  
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Testament kommen auch einseitige unwiderrufliche 
Erbverträge und vertragsmäßige Erbverzichte auf. 
Dabei ist die freie Verfügung über den Grund- 
besitz, wie für die Verträge unter Lebenden, so auch 
für die Rechtsgeschäfte von Todes wegen durch das 
Warterecht der Erben beschränkt. Kraft desselben 
konnte der nächste Erbe die über den Grundbesitz 
getroffene Verfügung des Erblassers, seit dem 
späteren Mittelalter auch die Belastung desselben 
anfechten (Beispruchsrecht). Dieses Recht wurde 
in den Städten zuerst auf das Erbgut der Familie 
beschränkt, allmählich schwächte es sich allgemein 
zu dem bloßen Vorkaufsrecht der Erben ab oder 
wurde durch das Pflichtteilsrecht (Noterbrecht,) 
ersetzt. Dieses erweist sich als ein Intestaterbrecht 
von solcher Stärke, daß es auch dem sonst dem In- 
testaterbrecht vorgehenden letzten Willen des Erb- 
lassers gegenüber seine Geltung behauptet. 
Die Rezeption des römischen Rechts erfolgte in 
der gemilderten justinianischen Form, neben ihm 
behaupten sich noch lange die deutschrechtlichen 
Gewohnheiten. Der hohe Adel erhielt sich seine 
Erbverträge und Hausgesetze, der auf den Boden 
des gemeinen Rechts gedrängte niedere Adel be- 
nutzte die Fideikommisse zur Erhaltung des Erbes 
in einer Hand. Ebenso dienten die renuntiatio- 
nes necessariae, bie Erbverzichte adliger Töchter, 
dazu, das Stammgut bei der Familie zu erhalten, 
indem diese gegen eine Abfindung ihrem Erbrecht 
bis zum ledigen Anfall (Aussterben des Mannes- 
stammes) entsagten. Auch verzögerte der lange 
Bestand des Lehnswesens und des gutsherrschaft- 
lichen Verbandes das gleiche Erbrecht und die ihm 
solgende Gewohnheit der Erbteilungen. An der 
Aufrechterhaltung leistungsfähiger Bauernhöfe 
hatten Grundherr und bald auch die Landesfürsten 
ein begreifliches Interesse. 
Gegen die zur Erhaltung des Familienbesitzes 
bestehenden Einrichtungen wandte sich die fran- 
zösische Revolution im Sinn einer zwangs- 
weisen Gleichstellung der Miterben (régime du 
partage forcé). Primogenitur, Vorzug der 
Männer, Familienretrakt, Unterschied von eigenem 
und erworbenem, väterlichem und mütterlichem 
Gut (vorübergehend [1789lauch die Zurücksetzung 
Unehelicher) wurden beseitigt und anfangs Testier- 
freiheit, dann aber der Grundsatz, daß alle Erben 
gleichen Grades in jeder stirps zu gleichen Teilen 
erben, aufgerichtet. Eine Zeitlang (1793) war 
es so wenig gestattet, eines der Kinder zu bevor- 
zugen, daß der Vater die Habe eher einem Dritten 
hätte geben dürfen. Die Enterbungsbefugnis, 
mittels welcher die Bäter ihre Söhne von der Be- 
teiligung an der Revolution hätten abhalten kön- 
nen, wurde beseitigt. Der Code Napoléon ge- 
stattet freie Verfügung über einen kleinen, mit der 
Zahl der Angehörigen abnehmenden Teil des 
Vermögens (quotité disponible). Dieses fran- 
zösische Erbrecht hatte den Zweck, die alte Gesell- 
schaft zu vernichten, indem es ihren Besitz „mor- 
cellierte". Um einen neuen, imperialistischen Adel
	        
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