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Deutsche Wirtschaftsgeschichte im 19. Jahrh. (1907,
Samml. Kösel).
Zu II: Beyendorff, Gesch. der Reichsgewerbe-
ordnung (1901); Rohrscheidt, Die G.ordnung für
das Deutsche Reich in der Redaktion vom 26. Julie
1900 mit sämtl. Ausführungsbestimmungen u.
Erläuterungen (1901); Landmann, Kommentar
zur G.ordnung (51907); Erläuterte Textausgaben
der G.ordnung von Hoffmann, Berger-Wilhelmi,
Neukamp; Neukamp, Art. „G. gesetzgebung“ in El-
sters Wörterbuch der Volkswirtschaft; G. Meyer,
Art. „G. gesetzgebung Deutschlands“ im Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften; Volger, Die
deutsche G. politik nach ihrer Entwicklung u. ihrem
gegenwärtigen Stand (1908). — Die Kommen-
tare zur österr. Goordnung von Müller u. Diwald,
von v. Komorzynski, von Weigelsperg; Art. „Ge-
werbe“ im Österr. Staatswörterbuch 1II (21906);
Heller, Österr. G.recht (1908). (Jul. Bachem.)
Gewerbeaussicht. Entstehung der Ein-
richtung; Rechte und Pflichten der Gewerbeauf-
sichtsbeamten; Bedeutung und Vervollkommnung
ihres Amtes; Staatenvergleichung.)
1. Entstehung der Einrichtung.
Gewerbeaufsichtsbeamte sind die mit der Über-
wachung der Durchführung der Arbeiterschutzgesetze
staatlich betrauten Beamten. Sie haben 1) die
allgemeine Durchführung der auf den Schutz von
Leben und Gesundheit der Arbeiter bezüglichen
Gewerbebestimmungen zu beaufsichtigen und die
von ihnen wahrgenommenen Übertretungen dieser
Vorschriften zur Anzeige zu bringen; sie haben
2) eine Weiterbildung der Arbeiterschutzgesetzgebung
durch die Beobachtung der wirtschaftlichen Erschei-
nungen und technischen Erfindungen, durch die
Sammlung statistischen Materials und die Er-
stattung von Berichten vorzubereiten und zu er-
möglichen; sie haben endlich 3) durch die Gewin-
nung des Vertrauens der Arbeiter und Arbeitgeber
auf die Beseitigung der von ihnen wahrgenom-
menen Mißstände hinzuwirken und Streitigkeiten
auszugleichen.
Historisch hat sich die Einrichtung der Ge-
werbeaufsichtsbeamten im Anschluß an die Gesetz-
gebung zum Schutze jugendlicher Arbeiter entwickelt.
Die Versuche der Fabrikbesitzer, sich den gesetzlichen
Beschränkungen in der Auswahl und der Beschäf-
tigungsdauer ihrer Arbeiter zu entziehen, haben
die einzelnen Staaten gezwungen, nachdem sich die
zuerst mit der Beaufsichtigung der Fabriken be-
trauten lokalen Behörden als dazu unfähig er-
wiesen hatten, die Kontrolle über die Durchführung
dieser Gesetze besondern staatlichen Beamten zu
übertragen; so in England, in Österreich, in
Preußen. In England reichen die Bestimmungen
zum Schutze jugendlicher Arbeiter in die Jahre
1802, 1819, 1825 zurück; sie wurden aber erst
wirksam, nachdem die Überwachung an Stelle der
bis dahin damit betrauten Friedensrichter und an-
derer local authorities durch das Fabrikgesetz
vom 29. Aug. 1833 staatlichen Inspektoren über-
tragen worden war. In Preußen wurden zur
Überwachung der zum Schutze der jugendlichen
Gewerbeaussicht.
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Arbeiter in den Fabriken angeordneten Einrich-
tungen 1824 die Ortsbehörden, seit 1839 Lokal-
kommissionen (Bürgermeister, Pfarrer, Arzte,
Schulvorsteher, Fabrikanten) berufen. Da sich
diese ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigten, ging
man auf Grund des Gesetzes vom 16. Mai 1853
dazu über, für die industriellen Regierungsbezirke
Aachen, Düsseldorf und Arnsberg besondere Fabrik-
inspektoren anzustellen. In Osterreich unter der
Enns wurde bereits 1772 ein eigener Beamter zur
Aussicht über die Fabriken bestellt; 1810 wurde
die Fabrikinspektion als besondere Behörde ein-
gesetzt, aber bald wieder aufgehoben. Die Gewerbe-
ordnung von 1859 beschränkte sich auf einige dürf-
tige Bestimmungen über die Beschäftigung von
Kindern in den Fabriken; besondere Aussichts-
organe wurden nicht eingesetzt. Deshalb wieder-
holte sich in Osterreich die Erfahrung, daß in
Angelegenheiten des Arbeiterschutzes ohne Mit-
wirkung eigener sachverständiger Aussichts= und
Durchführungsorgane nicht auszukommen ist.
Bei der Beratung der deutschen Gewerbe-
ordnung von 1869 fand die Einführung von
Fabrikinspektoren lebhafte Gegner; man sah in
ihr ein Wiederaufleben der bureaukratisch-polizei-
lichen Weltanschauung. Der Antrag auf obliga-
torische allgemeine Einführung besonderer Auf-
sichtsbeamten wurde demgemäß abgelehnt, und es
wurde in § 132 der Gewerbeordnung nur be-
stimmt, daß, wo Fabrikinspektoren angestellt seien,
ihnen die Befugnisse der Ortspolizeibehörden mit
dem Rechte zu jederzeitiger Revision der Fabriken
zustehen sollen. Von 1872 ab gingen Sachsen
und Baden mit der Anstellung von Fabrikinspek-
toren vor; Preußen führte dieselben in Berlin
und in der Provinz Sachsen ein. Die Gewerbeord-
nungsnovelle von 1878 übertrug alsdann gegen
den ursprünglichen Vorschlag des Bundesrates die
Aufsicht über die gesundheits= und sittenpolizei-
lichen Einrichtungen in den Fabriken und über
die zum Schutze der jugendlichen und weiblichen
Fabrikarbeiter getroffenen Anordnungen sowie
die Begutachtung der nach § 16 der Gewerbe-
ordnung genehmigungspflichtigen Anlagen und
ihre Beaufsichtigung neben den Polizeibehörden
ganz allgemein besondern von den Landesregie-
rungen zu ernennenden Beamten. Man hatte
erkannt, daß eine gleichmäßige Durchführung der
Arbeiterschutzmaßregeln in allen Fabriken eine
Forderung der Rechtsgleichheit sei, weil ohne solche
der das Gesetz umgehende Unternehmer seinen
gewissenhafteren oder unter strengerer Aufsicht
stehenden Konkurrenten überflügle, und daß die
einzige Möglichkeit der Erzwingung einer allsei-
tigen und gleichmäßigen Durchführung der ge-
troffenen Maßregeln die Anstellung staatlicher
Aussichtsbeamten sei.
Nach längerem Zögern entschloß sich Preußen
1891 zur Ausgestaltung der Einrichtung. Die
andern deutschen Staaten folgten, und so hat nach
den Berichten für 1907 im Gewerbeaufsichtsdienst
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