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England hat 1833 Fabrikinspektoren an- nahe und ist uralt. In der germanischen Rechts-
gestellt. An der Spitze der 39 Inspektionsbezirke entwicklung des Mittelalters ist er, sowohl in
steht direkt unter dem secretary of state ein Deutschland wie in Frankreich, vielfach zur Aus-
chief inspector mit superi tors, führung gelangt, durchweg im Anschluß an die
welche den Verkehr der Inspektoren mit dem cie Zünfte, welche außer einer Gewerbepolizei nicht
zu vermitteln und die Inspektoren zu kontrollieren selten auch eine Gerichtsbarkeit für gewerbliche
haben, und mit Distriktsinspektoren, deren jeder Streitigkeiten innerhalb ihrer Genossenschaften er-
zwischen 1000 und 3000 Unternehmungen zu in= langten. Seit den Stürmen der Reformation und
spizieren, jährlich 1500—2000 Besuche in Fa= namentlich seit der durch den Dreißigjährigen Krieg
briken zu machen und wöchentlich zu berichten hat. heraufbeschworenen Zeit des Absolutismus und
Diesen sind in den größten Distrikten junior in- des Polizeistaates verfiel diese Gerichtsbarkeit der
spectors, Assistenten, beigeordnet. Zu der Orga- Zünfte ebenso, wie die Genossenschaften selbst ver-
nisation gehören auch die Fabrikärzte, certifying # fielen, welche ihre Träger waren. Als die fran-
Gewerbegerichte.
surgeons, welche der Fabrikinspektor anstellt und
entläßt und welche das Alter der arbeitenden
Kinder und jugendlichen Personen durch Ein-
fordern der Geburtsscheine festzustellen, die noch
nicht 16jährigen Personen zu untersuchen und bei
1Unfüällen die Verletzungen zu ermitteln haben. Die
Zahl der Fabrikinspektoren reicht zwar nicht aus;
trotzdem haben dieselben für die Ausbildung der
Arbeiterschutzmaßregeln und das Verhältnis zwi-
schen Arbeitern und Arbeitgebern eine immer wach-
sende Bedeutung erlangt.
Literatur. Adler in den Jahrbüchern für
Nationalökonomie VIII (1884) 194 ff; Dehn, Fa-
brikgesetzgebung (1890); Schüler im Archiv für
soziale Gesetzgebung II (1890); Plotke, Gewerbe-
inspektion in Deutschland (1899); v. Landmann,
Kommentar zur Gewerbeordnung (2 Bde, 1907);
Herkner, Arbeiterfrage (51908). pahn.)
Gewerbegerichte. 1. Geschichtliches.
Weitaus die meisten Streitigkeiten des gewerb-
lichen Lebens zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
haben das Eigentümliche, daß ihr Gegenstand ver-
hältnismäßig gering ist; daß ein möglichst kosten-
loses Verfahren zu ihrer Entscheidung besonders
wünschenswert ist, weil regelmäßig auf der einen
Seite eine geringe wirtschaftliche Leistungsfähig-
keit obwaltet; daß eine rasche Schlichtung im
Interesse der Beteiligten noch mehr nottut als bei
den meisten übrigen Rechtsstreitigkeiten; daß eine
Erledigung durch Vergleich am erwünschtesten ist,
weil die Parteien auf ein dauernd gutes Einver-
nehmen angewiesen sind, und daß es bei Ent-
scheidung derselben weniger auf eine genaue Kennt-
nis des gesamten Rechtsgebietes als auf Erfahrung
und Sachkunde in den örtlichen gewerblichen Ver-
hältnissen ankommt. Wo sie in größerer Zahl vor-
kommen, also bei höher entwickelten industriellen
Verhältnissen, sind deshalb besondere Behörden zu
ihrer Entscheidung angebracht, welche im Gegensatz
zu den ordentlichen Gerichten in erster Linie Ver-
gleichsbehörden sind und welche, wenn ein Ver-
gleich nicht zustande kommt, aus der lebendigen
Rechtsauffassung des gewerblichen Lebens heraus
entscheiden und dabei der Billigkeit eine besondere
Rücksicht zuwenden.
Der Gedanke, die gewerblichen Streitigkeiten
nicht durch gelehrte Richter, sondern durch Fach-
oder Standesgerichte entscheiden zu lassen, liegt
zösische Revolution hereinbrach, war sie bis auf
geringe Spuren verschwunden.
Die Entwicklung der heutigen Sondergerichte
für gewerbliche Streitigkeiten knüpft an die Neu-
ordnung der Gewerbegerichtsbarkeit an, welche in
Frankreich unter Kaiser Napoleon I. getroffen
wurde. Hier hatte der große Umsturz mit den
gewerblichen Genossenschaften aufgeräumt. All-
gemeine Gewerbefreiheit war gestattet; Arbeit-
geber und Arbeiter waren grundsätzlich gleich-
gestellt worden. Der Erfolg war zunächst eine
Zerrüttung der gewerblichen Verhältnisse, welche
die Vertreter der Lyoner Seidenindustrie veran-
laßte, von Napoleon, als er Lyon besuchte, eine
neue Reglung zu begehren. Kaiser Napoleon ging
auf den Gedanken ein. Sein Décret portant
établissement d’un conseil de prud'’hommes
a Lyon vom 18. März 1806 setzte für Lyon einen
Rat der Gewerbeverständigen (prud'hommes,)
ein. Er bestand aus fünf Fabrikanten und vier
Werkstättenvorstehern (Fabrikmeistern in unserem
heutigen Sinne) unter dem Vorsitze eines Fabri-
kanten, welchem zunächst einige verwaltungsrecht-
liche und polizeiliche Befugnisse, wie Eintragung
der Muster, Feststellung der vorhandenen Gewerbe-
betriebe und der Zahl ihrer Arbeiter durch jähr-
liche Einsichtnahmen, Führung einer Liste der be-
stehenden Webstühle, Beaufsichtigung der Arbeits-
und Quittungsbücher, Feststellung von Verun-
treuungen, dann auch eine Gerichtsbarkeit in ge-
werblichen Streitigkeiten überwiesen wurde. Ein
bureau particulier, welches sich aus einem Fa-
brikanten und einem Werkstättenvorsteher zusam-
mensetzte, hatte die Befugnis, kleinere gewerbliche
Streitigkeiten durch Vergleich gütlich zu schlichten,
und war zugleich in größeren Sachen Vorinstanz
für den ordentlichen Prozeß vor der Spruchbehörde
des Gerichts. Bei allen Sachen, die einen Streit-
wert von 60 Francs zum Gegenstande hatten, war
die Zuständigkeit der gewöhnlichen Gerichte aus-
geschlossen. Statt ihrer entschied das bureau gé-
néral des Rates der Gewerbeverständigen, welches
aus mindestens drei Fabrikanten und zwei Werk-
stättenvorstehern unter dem Vorsitze eines Fabri-
kanten bestand, und zwar in einziger und letzter
Instanz. Das Verfahren war nahezu kostenlos.
Eine Verallgemeinerung und Ausdehnung auf
ganz Frankreich erhielt diese Einrichtung durch die