Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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befähigte, richterliche Beamte sein und werden 
vom Justizminister ernannt. Das Aufsichtsrecht 
über sie übt der Vorsitzende des ordentlichen Ge- 
richtshofs erster Instanz aus, in dessen Sprengel 
das Gewerbegericht seinen Sitz hat. Ihr Amt ist 
entgeltlich. Die Beisitzer und Ersatzmänner werden 
je zur Hälfte von den Unternehmern und den 
Arbeitern in gesonderten Wahlkörpern aus ihrer 
Mitte unmittelbar und durch Stimmzettel auf 
vier Jahre gewählt. Der Wahlkörper der Unter- 
nehmer besteht aus den Inhabern der Gewerbe, 
deren Betriebsstätte sich im Sprengel des Gewerbe- 
gerichts befindet und auf die sich die Zuständigkeit 
derselben erstreckt. Frauen können auch durch Be- 
vollmächtigte wählen. Der Wahlkörper der Ar- 
beiter setzt sich aus allen, in den zur Zuständigkeit 
des Gewerbegerichts gehörigen Betrieben beschäf- 
tigten, männlichen und weiblichen Arbeitern zu- 
sammen, welche das zwanzigste Lebensjahr voll- 
endet haben und seit mindestens einem Jahre im 
Inlande arbeiten. Lehrlinge sind nicht wahl- 
berechtigt. Wählbar ist nur der männliche Wahl- 
berechtigte, welcher österreichischer Staatsbürger, 
dreißig Jahre alt und eigenberechtigt ist. Die 
Einzelheiten der Wahl sind durch Verordnung ge- 
regelt. Die Beisitzer sind Ehrenbeamte. Sie haben 
nur Anspruch auf Ersatz der angemessenen baren 
Auslagen, die Arbeiterbeisitzer und ihre Ersatz- 
männer außerdem auf Entschädigung für den Ver- 
dienstentgang. Wegen Vernachlässigung der Amts- 
pflichten kann der Vorsitzende über die Beisitzer 
Ordnungsstrafen verhängen. Dagegen können sie 
ihres Amtes enthoben werden nur durch Entschei- 
dung des Gerichtshofs erster Instanz, gegen welche 
Rekurs an das Oberlandesgericht zulässig ist. Ver- 
handelt und entschieden wird seitens des Gewerbe- 
gerichts in Senaten, welche aus dem Vorsitzenden 
und je einem Unternehmer und Arbeiter als Bei- 
sitzern bestehen. Für gewerbliche Streitigkeiten 
zwischen Handeltreibenden und ihren Angestellten 
ist eine besondere Abteilung zu bilden, deren 
Beisitzer aus besondern Wahlkörpern gewählt 
werden. Auf das gerichtliche Verfahren finden 
grundsätzlich die für den bezirksgerichtlichen Rechts- 
gang in Bagatellsachen geltenden Vorschriften 
der Zivilprozeßordnung Anwendung. Ein An- 
waltszwang besteht nicht. In Streitsachen bis zu 
50 Gulden entscheiden die Gewerbegerichte end- 
gültig. Die Berufung ist nur aus Nichtigkeits- 
gründen zulässig. Urteile in Streitigkeiten über 
höhere Beträge sind unbeschränkt mittels der Be- 
rufung anfechtbar. Die Entscheidung erfolgt durch 
den Gerichtshof erster Instanz, ohne Anwalts- 
zwang, aber unter Zuziehung von zwei gewerb- 
lichen Beisitzern. Das Rechtsmittel der Nichtig- 
keits= und Wiederaufnahmsklage ist diesem Ver- 
fahren fremd. 
Als eine Art von Gewerbegerichten sind auch 
hier die Innungsschiedsgerichte zu nennen, indem 
die österreichische Novelle zur Gewerbeordnung 
von 1883 den einzelnen Innungen oder einer 
Gewerbegerichte. 
  
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Vereinigung von Innungen das Recht beilegt, 
Ausschüsse als genossenschaftliche Schiedsgerichte 
zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Mit- 
gliedern der Genossenschaft und ihren Gesellen, 
Lehrlingen und sonstigen Hilfsarbeitern zu er- 
richten. Die Statuten sind obrigkeitlich zu ge- 
nehmigen. Die Gerichtsbarkeit derselben ist jedoch 
bloß fakultativ und dann auch nur provisorisch; 
sie tritt erst ein, wenn beide Teile sich einem solchen 
Gericht durch schriftliche Erklärung unterwerfen, 
oder wenn auf die Klage hin der Beklagte frei- 
willig erscheint und die Gerichtsbarkeit des Ge- 
werbegerichts ausdrücklich anerkennt. Die Er- 
kenntnisse sind nur vorläufig vollstreckbar und für 
beide Teile anfechtbar durch die Klage bei dem 
ordentlichen Gericht binnen einer Frist von acht 
Tagen seit der Verkündigung. Eine ähnliche Bil- 
dung sind die „schiedsrichterlichen Kollegien“ der 
österreichischen Gewerbeordnungsnovelle von 1885, 
welche auf Antrag aus den beteiligten Kreisen für 
jene Gewerbetreibenden errichtet werden, die einer 
gewerblichen Genossenschaft nicht angehören. Zu 
einer Blüte oder auch nur zu einer einigermaßen 
lebendigen Entwicklung sind diese Einrichtungen 
bisher nicht gelangt. 
Frankreich hatte bis vor kurzem noch seine 
Conseils de prud’hommes (s. o.) mit manchen 
Ergänzungen und Abänderungen durch spätere 
Gesetze, namentlich der 1850er und 1880er Jahre. 
Eine wesentliche Umgestaltung brachte nach lang- 
wierigen parlamentarischen Verhandlungen und 
nur infolge der nachdrücklichsten Kundgebungen 
der Beisitzer aus dem Arbeiterstande zunächst das 
Gesetz vom 15. Juli 1905, betreffend die Be- 
rufungsordnung beim Gewerbegerichtsverfahren. 
Der dem Handelsministerium untergeordnete con- 
seil wurde als Gewerbegericht dem Justizmini- 
sterium unterstellt. Das Gewerbegericht bestand 
aus der gleichen Anzahl von Beisitzern der Arbeit- 
geber und der Arbeitnehmer mit Einschluß des 
Vorsitzenden oder seines Stellvertreters, die ab- 
wechselnd ihr Amt ausübten. Auf die Beisitzer 
fanden die Bestimmungen über die richterlichen 
Beamten Anwendung. Die Abstimmungen er- 
folgten mit einfacher Mehrheit. Bei Stimmen- 
gleichheit mußte die Sache nochmals verhandelt 
werden, aber unter Vorsitz des Friedensrichters. 
Die Zuständigkeitsgrenze des Gewerbegerichts be- 
trug grundsätzlich 300 Francs. Berufungsinstanz 
war nicht mehr das von Arbeitgebern aus Handel 
und Industrie gebildete Handelsgericht, sondern 
das Zivilgericht. Eine einheitliche Neureglung des 
Gewerbegerichtswesens erfolgte endlich durch das 
Gewerbegerichtsgesetz vom 27. März 1907. Ihm 
zufolge verfügt die Staatsbehörde die Errichtung 
von Gewerbegerichten. Sie muß erfolgen, wenn 
der Gemeinderat sie beantragt. Die Gerichte sind 
zuständig gemeinsam für die Standesstreitigkeiten 
der Industrie und des Handels. Die Frauen 
haben das aktive Wahlrecht für die Wahlen der 
Gerichtsmitglieder erhalten, jedoch nicht das passive. 
  
 
	        
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