Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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rechnenden politischen Parteien auf bestimmte 
sozialpolitische Forderungen der Gewerlvereine, 
ohne daß letztere dabei für eine einzelne politische 
Partei Stellung zu nehmen brauchen. 
Die Gewerkvereine sind somit als Organisa- 
tionen der Selbsthilfe zu bestimmten, bloß 
wirtschaftlichen Zwecken entstanden; sie 
wollen die allen Lohnarbeitern eines Gewerbes 
gemeinsamen Interessen bei der Verwertung der 
dem Unternehmer im freien Arbeitsvertrage ver- 
dingten Arbeitsleistungen fördern. Auf dieses Ziel 
mußten alle Kräfte und Mittel der Organisation 
konzentriert werden. Diese Beschränkung war in 
Deutschland doppelt notwendig angesichts der tief- 
greifenden Spaltung der Arbeiter auf konfessio- 
nellem und politischem Gebiete, die, in die Ge- 
werkvereine hineingetragen, dieselben zersplittern 
und damit schwächen muß. Die Verquickung rein 
politischer Parteibestrebungen mit den gewerk- 
schaftlichen Bestrebungen wird übrigens auch des- 
halb stets zum Schaden der letzteren ausschlagen, 
zumal wenn es sich um radikale politische Par- 
teien handelt, da der Politiker mehr oder weniger 
Illusionist mit fernen Zukunftsidealen, der Ge- 
werkschaftler aber strengster Realist mit konkreten 
Gegenwartsaufgaben ist; jener sucht mit aller 
Kraft sieghaft im großen Zuge allgemeine Prin- 
zipien, dieser beschränkte Fortschritte auf dem Wege 
des Kompromisses durchzusetzen. Wie dem ge- 
meinen Recht, so untersteht der Gewerkverein als 
wirtschaftliche Berufsvereinigung auch dem christ- 
lichen Sittengesetze. Ist die Erfüllung dieser For- 
derung durch die Statuten, durch die paritätische 
Besetzung der leitenden Amter, durch wachsame 
Kontrolle seitens der gläubigen christlichen Mit- 
glieder gewährleistet, so steht an sich nichts im 
Wege, daß die Arbeiter verschiedener religiöser 
Bekenntnisse sich in den Gewerkvereinen zusammen- 
schließen. Anderseits fordert aber auch der Zweck 
der Gewerkvereine das Zusammenwirken möglichst 
aller Berufsgenossen. Aus derselben Erwägung 
hat die konstante und bisher unbeanstandete Ent- 
wicklung der wirtschaftlichen Berufsvereinigungen 
der übrigen Stände, der Handwerker, Landwirte, 
Gewerbetreibenden wie besonders auch der gewerb- 
lichen Arbeitgeber zum Zusammenschluf aller Mit- 
glieder des Berufsstandes mit zwingender Not- 
wendigkeit geführt. Auch in den gesetzlichen Stan- 
desvertretungen, in den Handels-, Gewerbe-, 
Handwerks-, Landwirtschaftskammern, neuerdings 
in den Arbeitskammern, in den Innungen, den 
Erwerbs= und Wirtschaftsgenossenschaften, ist die 
Einbeziehung aller Berufsgenossen ohne Unter- 
schied der Partei= und Religionsbekenntnisse zum 
Grundsatze gemacht. 
Die rechtliche Voraussetzung der Ge- 
werkvereine ist das Recht des dem Unternehmer 
gegenüber persönlich freien und über die Ver- 
dingung und Verwertung seiner Arbeitskraft selb- 
ständig bestimmenden Lohnarbeiters, das im freien 
Arbeitsvertrag zum Ausdruck kommt. Das frühere 
Gewerk= und Arbeitervereine. 
  
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Herrschafts= und Dienstverhältnis, das den un- 
freien Arbeiter voraussetzte, ist durch die Gleich- 
berechtigung des Arbeiters und Arbeitgebers ab- 
gelöst. Dementsprechend bestimmt die deutsche 
Reichsgewerbeordnung (§ 105); „Die Festsetzung 
der Verhältnisse zwischen den selbständigen Ge- 
werbetreibenden (Arbeitgebern) und den gewerb- 
lichen Arbeitern ist, vorbehaltlich der durch Reichs- 
gesetz begründeten Beschränkungen, Gegenstand 
freier Ubereinkunft.“ Letztere Beschränkungen, z. B. 
in den Arbeiterversicherungs-- und Arbeiterschutz- 
gesetzen (Schutz von Leben und Gesundheit, Siche- 
rung der Sonntagsruhe, Beschränkung der Ar- 
beitszeit für Kinder, jugendliche Arbeiter und Ar- 
beiterinnen, Reglung der Arbeitsordnung, Straf- 
bestimmungen usw.), haben aber gerade den Schutz 
der Freiheit des Arbeiters im Arbeitsvertrage zum 
Zwecke, den dieser sich selbst in vollem Maße nicht 
verschaffen kann. Das weite Gebiet der sonstigen 
Einzelheiten des Arbeitsvertrags ist der freien 
Vereinbarung zwischen Arbeitern und Arbeitgebern 
überlassen, speziell die Reglung der Arbeitszeit für 
die große Mehrzahl der erwachsenen Arbeiter und 
des Arbeitslohnes. Hier nun setzt der Gewerk- 
verein ein; er bietet sich den Arbeitern als starker 
Garant der Freiheit des Arbeitsvertrages an. Da- 
bei begegnet er ihrem stark ausgeprägten Streben 
nach Selbstbestimmung als freie Perfön= 
lichkeit, einem Streben, das in den letzten Jahrhun- 
derten die Kulturmenschheit auf allen Gebieten 
des Lebens immer mehr zum Ausdrucke gebracht 
hat, das heute im Zeitalter der allgemeinen Volks- 
schulbildung, der allgemein zugänglichen Presse, 
der allgemeinen Wehrpflicht und des allgemeinen 
Wahlrechts als natürliche Erscheinung gelten muß. 
Dieses Ringen nach Entfaltung der freien Persön- 
lichkeit auch im wirtschaftlichen Leben ist nur eine 
weitere Stufe jener fortschreitenden wirtschaftlichen 
und gesellschaftlichen Befreiung, welche die Skla- 
verei durch die Hörigkeit und diese durch die 
Dienstbarkeit ablöste. Jene Fortschritte waren zu 
einer ökonomischen Notwendigkeit geworden durch 
die Vervollkommnung der wirtschaftlichen Be- 
triebssormen; in gleicher Weise erfordert auch die 
erhöhte Intensität des modernen Wirtschafts- 
betriebs einen gesteigerten Grad der Selbstbestim- 
mung und Selbstverantwortung des dem Groß- 
betrieb eingegliederten Arbeiters. Als ein Kampf 
um sein persönliches Recht erscheint daher heute 
dem Arbeiter das Ringen um die Entfaltung seiner 
Organisation; es ist nicht bloß fruchtlos, wenn 
Unternehmer und Regierungen sich dem entgegen- 
zustemmen suchen, sondern diese Vorenthaltung 
eines heiß ersehnten Rechts muß auch verwirrend 
auf die politischen Anschauungen und verbitternd 
auf die gesellschaftlichen Gefühle der Arbeiter 
wirken. — Verstärkt wird dieses Streben nach 
Möglichst weitgehender genossenschaftlicher Selbst- 
bestimmung im Arbeitsverhältnis durch die Ein- 
sicht, daß eine wirtschaftliche Besserstel- 
lung auf dem Boden des freien Arbeitsvertrages 
  
 
	        
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