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rechnenden politischen Parteien auf bestimmte
sozialpolitische Forderungen der Gewerlvereine,
ohne daß letztere dabei für eine einzelne politische
Partei Stellung zu nehmen brauchen.
Die Gewerkvereine sind somit als Organisa-
tionen der Selbsthilfe zu bestimmten, bloß
wirtschaftlichen Zwecken entstanden; sie
wollen die allen Lohnarbeitern eines Gewerbes
gemeinsamen Interessen bei der Verwertung der
dem Unternehmer im freien Arbeitsvertrage ver-
dingten Arbeitsleistungen fördern. Auf dieses Ziel
mußten alle Kräfte und Mittel der Organisation
konzentriert werden. Diese Beschränkung war in
Deutschland doppelt notwendig angesichts der tief-
greifenden Spaltung der Arbeiter auf konfessio-
nellem und politischem Gebiete, die, in die Ge-
werkvereine hineingetragen, dieselben zersplittern
und damit schwächen muß. Die Verquickung rein
politischer Parteibestrebungen mit den gewerk-
schaftlichen Bestrebungen wird übrigens auch des-
halb stets zum Schaden der letzteren ausschlagen,
zumal wenn es sich um radikale politische Par-
teien handelt, da der Politiker mehr oder weniger
Illusionist mit fernen Zukunftsidealen, der Ge-
werkschaftler aber strengster Realist mit konkreten
Gegenwartsaufgaben ist; jener sucht mit aller
Kraft sieghaft im großen Zuge allgemeine Prin-
zipien, dieser beschränkte Fortschritte auf dem Wege
des Kompromisses durchzusetzen. Wie dem ge-
meinen Recht, so untersteht der Gewerkverein als
wirtschaftliche Berufsvereinigung auch dem christ-
lichen Sittengesetze. Ist die Erfüllung dieser For-
derung durch die Statuten, durch die paritätische
Besetzung der leitenden Amter, durch wachsame
Kontrolle seitens der gläubigen christlichen Mit-
glieder gewährleistet, so steht an sich nichts im
Wege, daß die Arbeiter verschiedener religiöser
Bekenntnisse sich in den Gewerkvereinen zusammen-
schließen. Anderseits fordert aber auch der Zweck
der Gewerkvereine das Zusammenwirken möglichst
aller Berufsgenossen. Aus derselben Erwägung
hat die konstante und bisher unbeanstandete Ent-
wicklung der wirtschaftlichen Berufsvereinigungen
der übrigen Stände, der Handwerker, Landwirte,
Gewerbetreibenden wie besonders auch der gewerb-
lichen Arbeitgeber zum Zusammenschluf aller Mit-
glieder des Berufsstandes mit zwingender Not-
wendigkeit geführt. Auch in den gesetzlichen Stan-
desvertretungen, in den Handels-, Gewerbe-,
Handwerks-, Landwirtschaftskammern, neuerdings
in den Arbeitskammern, in den Innungen, den
Erwerbs= und Wirtschaftsgenossenschaften, ist die
Einbeziehung aller Berufsgenossen ohne Unter-
schied der Partei= und Religionsbekenntnisse zum
Grundsatze gemacht.
Die rechtliche Voraussetzung der Ge-
werkvereine ist das Recht des dem Unternehmer
gegenüber persönlich freien und über die Ver-
dingung und Verwertung seiner Arbeitskraft selb-
ständig bestimmenden Lohnarbeiters, das im freien
Arbeitsvertrag zum Ausdruck kommt. Das frühere
Gewerk= und Arbeitervereine.
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Herrschafts= und Dienstverhältnis, das den un-
freien Arbeiter voraussetzte, ist durch die Gleich-
berechtigung des Arbeiters und Arbeitgebers ab-
gelöst. Dementsprechend bestimmt die deutsche
Reichsgewerbeordnung (§ 105); „Die Festsetzung
der Verhältnisse zwischen den selbständigen Ge-
werbetreibenden (Arbeitgebern) und den gewerb-
lichen Arbeitern ist, vorbehaltlich der durch Reichs-
gesetz begründeten Beschränkungen, Gegenstand
freier Ubereinkunft.“ Letztere Beschränkungen, z. B.
in den Arbeiterversicherungs-- und Arbeiterschutz-
gesetzen (Schutz von Leben und Gesundheit, Siche-
rung der Sonntagsruhe, Beschränkung der Ar-
beitszeit für Kinder, jugendliche Arbeiter und Ar-
beiterinnen, Reglung der Arbeitsordnung, Straf-
bestimmungen usw.), haben aber gerade den Schutz
der Freiheit des Arbeiters im Arbeitsvertrage zum
Zwecke, den dieser sich selbst in vollem Maße nicht
verschaffen kann. Das weite Gebiet der sonstigen
Einzelheiten des Arbeitsvertrags ist der freien
Vereinbarung zwischen Arbeitern und Arbeitgebern
überlassen, speziell die Reglung der Arbeitszeit für
die große Mehrzahl der erwachsenen Arbeiter und
des Arbeitslohnes. Hier nun setzt der Gewerk-
verein ein; er bietet sich den Arbeitern als starker
Garant der Freiheit des Arbeitsvertrages an. Da-
bei begegnet er ihrem stark ausgeprägten Streben
nach Selbstbestimmung als freie Perfön=
lichkeit, einem Streben, das in den letzten Jahrhun-
derten die Kulturmenschheit auf allen Gebieten
des Lebens immer mehr zum Ausdrucke gebracht
hat, das heute im Zeitalter der allgemeinen Volks-
schulbildung, der allgemein zugänglichen Presse,
der allgemeinen Wehrpflicht und des allgemeinen
Wahlrechts als natürliche Erscheinung gelten muß.
Dieses Ringen nach Entfaltung der freien Persön-
lichkeit auch im wirtschaftlichen Leben ist nur eine
weitere Stufe jener fortschreitenden wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Befreiung, welche die Skla-
verei durch die Hörigkeit und diese durch die
Dienstbarkeit ablöste. Jene Fortschritte waren zu
einer ökonomischen Notwendigkeit geworden durch
die Vervollkommnung der wirtschaftlichen Be-
triebssormen; in gleicher Weise erfordert auch die
erhöhte Intensität des modernen Wirtschafts-
betriebs einen gesteigerten Grad der Selbstbestim-
mung und Selbstverantwortung des dem Groß-
betrieb eingegliederten Arbeiters. Als ein Kampf
um sein persönliches Recht erscheint daher heute
dem Arbeiter das Ringen um die Entfaltung seiner
Organisation; es ist nicht bloß fruchtlos, wenn
Unternehmer und Regierungen sich dem entgegen-
zustemmen suchen, sondern diese Vorenthaltung
eines heiß ersehnten Rechts muß auch verwirrend
auf die politischen Anschauungen und verbitternd
auf die gesellschaftlichen Gefühle der Arbeiter
wirken. — Verstärkt wird dieses Streben nach
Möglichst weitgehender genossenschaftlicher Selbst-
bestimmung im Arbeitsverhältnis durch die Ein-
sicht, daß eine wirtschaftliche Besserstel-
lung auf dem Boden des freien Arbeitsvertrages