Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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nur möglichist durch die Organisation, 
d. h. das Eintreten aller Berufsgenossen für den 
einzelnen. Im freien Arbeitsvertrag ist der ein- 
zelne Arbeiter zwar rechtlich frei, eine angebotene 
Arbeit unter bestimmten Bedingungen anzunehmen 
oder nicht anzunehmen. Es gibt kein Rechts- 
mittel, das ihn hier zwingen könnte. Tatsächlich 
aber ist er in den meisten Fällen nicht frei, d. h. 
seine ökonomischen Verhältnisse zwingen den ein- 
zelnen, der allein steht, in den meisten Fällen, 
dennoch anzunehmen. Der einzelne auf sich allein 
angewiesene Arbeiter muß nämlich, um leben zu 
können, notgedrungen Arbeit annehmen, auch zum 
niedrigsten Preise, auch bei überlanger Arbeits- 
zeit, in schlechten Arbeitsräumen usw., wenn ihm 
sonst keine Arbeit angeboten wird. Nur dann ist 
der Arbeitsvertrag tatsächlich für den Arbeiter frei, 
wenn er ihn ebensogut auch nicht abschließen kann. 
„Dazu ist er vermöge seiner Armut als Regel nicht 
imstande. Sie nötigt die Masse der weder mit 
Vermögen noch mit besonders hervorragenden 
Eigenschaften ausgestatteten Arbeiter, den Mittel- 
schlag, ihre Arbeit als Regel um jeden Preis an- 
zubieten. Um bei sinkender Nachfrage gleich andern 
Verkäufern ein Sinken des Preises unter ihre 
Produktionskosten, d. h. unter das zur Lebens- 
haltung Unentbehrliche verhindern zu können, 
müßte sie imstande sein, ihre Arbeit vom Arbeits- 
markte zurückzuziehen. Um die steigende Nach- 
frage gleich andern Verkäufern ausnützen zu kön- 
nen, müßte sie imstande sein, ihre Arbeit so lange 
vorzuenthalten (durch Kündigung, Streik), bis 
deren Preis stiege. Allein die Masse der mit 
Durchschnittseigenschaften begabten Arbeiter ist, 
wo diese einzeln auftreten, völlig einflußlos auf 
das Arbeitsangebot. Statt daß die Arbeitsbedin- 
gungen in freiem Vertrag zwischen Arbeitgeber 
und Arbeiter vereinbart würden, ist es daher als 
Regel der Arbeitgeber, der diese Bedingungen ein- 
seitig festsetzt. Daher haben die Arbeiter sich zu- 
sammengetan, sich in Gewerkvereinen koaliert. Sie 
zahlen regelmäßige Beiträge in eine Kasse, aus 
der diejenigen, welche nicht die Arbeitsbedingungen, 
auf die sie nach der Marktlage Anspruch erheben 
können, erhalten, solange sie arbeitslos sind, Unter- 
stützung empfangen. Nun können sie, wenn sie 
nicht die gewünschten Arbeitsbedingungen erhalten, 
die Arbeit so lange einstellen, bis der Käufer ihrer 
Arbeit, der sog. Arbeitgeber, bereit ist, ihren 
Wünschen entgegenzukommen. Nun können sie 
ihre Arbeit da vom Markte zurückziehen, wo ihr 
Preis unter den Produktionskosten steht. Nun 
können sie mit dem Verkauf ihrer Arbeit so lange 
zurückhalten, bis deren Preis entsprechend der ver- 
besserten Geschäftslage steigt. Nun erst vermögen 
sie das Angebot ihrer Ware gleich andern Ver- 
käufern zu regeln. Nun ist die Voraussetzung, 
von der unser Arbeitsrecht ausgeht, daß der Ar- 
beiter ein freier Verkäufer sei gleich andern Ver- 
käufern, verwirklicht. Nun erst ist der Arbeits- 
vertrag ein freier Vertrag zwischen Arbeitgeber 
Gewerk= und Arbeitervereine. 
  
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und Arbeiter“ (Brentano). Jetzt, im Gewerk- 
vereine, vereinbart nicht mehr der schwache Ein- 
zelne die Arbeitsbedingungen, sondern dies über- 
nimmt der starke Gewerkverein für seine Mitglieder 
als Gesamtheit. Der einzelne kann vom Arbeit- 
geber, ohne daß seine Produktion gestört wird, 
ersetzt werden, die Gesamtheit nicht. Das Ziel 
der Gewerkvereine ist deshalb die kollektive Ver- 
tragsabschließung von Arbeiterorganisation zur 
Arbeitgeberorganisation (Tarifvertrag). 
UÜbrigens folgen die Lohnarbeiter mit dem Stre- 
ben nach Organisation nur dem Zuge nach ge- 
nossenschaftlichem Zusammenschlusse, 
den alle übrigen Erwerbsstände als wichtigsten 
Faktor wirtschaftlichen Fortschrittes erkannt und 
verwirklicht haben; so die Landwirte in Bauern- 
und landwirtschaftlichen Vereinen und Genossen- 
schaften, die Handwerker in Innungen und Hand- 
werkergenossenschaften, die Gewerbetreibenden in 
gewerblichen oder kaufmännischen Vereinigungen 
und Genossenschaften. Selbst die in dustriellen. 
Arbeitgeber haben es seit Jahren immer mehr 
als eine Notwendigkeit erkannt, sich zur Ver- 
tretung ihrer wirtschaftlichen Interessen in einer 
ganzen Reihe von wirtschaftlichen Verbänden „zur 
Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Inter- 
essen“ zu vereinigen. Außerdem haben sie sich in 
Verkaufsgenossenschaften (Syndikaten, Kartellen) 
zusammengeschlossen, um auf diese Weise einen 
angemessenen Preis für ihre Waren, z. B. Kohlen, 
Eisen usw., sich zu sichern. Dazu traten dann die 
zahlreichen Arbeitgeberverbände mit dem Zwecke, 
die Stellung der Unternehmer beim Abschlusse des 
Arbeitsvertrages zu stärken. Die Arbeiter folgen 
nur jenen Beispielen und handeln aus gleicher 
Notwendigkeit, wenn sie sich in Gewerkvereinen 
zusammenschließen, um sich auf gesetzmäßigem 
Wege nach Möglichkeit einen angemessenen Lohn 
für ihre auf dem Arbeitsmarkte angebotene „Ware“, 
die Arbeitsleistung, ferner angemessene Verkürzung 
der Arbeitszeit, Schutz vor gesundheitsschädlichen 
Einflüssen in den Betrieben, gute Behandlung 
von seiten des Unternehmers und seiner Beamten 
zu sichern. 
Die Organisation der Gewerkvereine, viel- 
gestaltig je nach der Art des Berufszweiges, der 
Dauer ihres Bestehens, dem Umfange des Aus- 
breitungsgebiets, ist in allen wesentlichen Einzel- 
heiten durch ihre Aufgabe bestimmt. Sie sind, 
solange sie ihrer wesentlichen Bestimmung nicht 
entfremdet werden, keine Kampforganisationen, 
sondern Friedensorganisationen, deren äußerstes 
Mittel zwar, wenn eine Verständigung über strit- 
tige Fragen nicht erreicht werden kann, der Kampf, 
die Arbeitsverweigerung im Streike ist. Sie er- 
streben die Stärkung ihrer Mitglieder als Ver- 
tragabschließender dadurch, daß die Organisation 
für ihre Mitglieder den Vertrag abschließt unter 
Entfaltung der Macht, die das Angebot der ge- 
schlossen auf dem Arbeitsmarkte auftretenden Trä-- 
ger der Arbeitskraft gegenüber der Nachfrage nach
	        
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