Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Arbeit seitens der Leiter der Produktion in die 
Wagschale werfen kann. Ziel der Organisation 
muß also sein Sammlung möglichst aller Arbeiter 
eines Gewerbes in einem Zentralverbande, der 
den ganzen einschlägigen Arbeitsmarkt beherrschen 
kann; die Lokalorganisation, die oft in den ersten 
Stadien der Entwicklung nicht zu umgehen ist, 
kann nicht als vollkommene und leistungsfähige 
Organisationsform angesehen werden. Der Zen- 
tralverband setzt sich aus Zweig= oder Ortsvereinen 
zusammen, die füglich auch in Bezirks= oder Gau- 
verbänden zusammengeschlossen werden. Neben 
diesen bilden sich auch örtliche Gewerkschafts- 
kartelle aus den Ortsvereinen der verschiedenen 
Zentralverbände zur Beratung und Unterstützung 
in gemeinsamen örtlichen Angelegenheiten. Die 
Mitglieder des Gewerkvereins nehmen teil an der 
Verwaltung durch die Wahl der Vorsitzenden und 
Vorstände der Zweigvereine, aus deren Reihen die 
Delegiertenkonferenzen hervorgehen, welche den 
Gesamtvorstand oder Exekutivausschuß wählen. 
Möglichste Zentralisation der Verwaltung durch 
den Verbandsvorsitzenden, Verbandsausschuß und 
Verbandssekretär (Generalsekretär), die aber der 
Kontrolle der Generalversammlung der Delegierten 
unterstehen, ist durch die Notwendigkeit schlag- 
fertigen Vorgehens des Gewerkvereins geboten. 
Dagegen werden durch die jährliche Aussprache 
auf den Delegiertenkonferenzen Direktiven für den 
Verbandsvorstand festgelegt. Die Mitglieder zah- 
len Eintrittsgelder und regelmäßige Mitglieder- 
beiträge, außerdem in Fällen, wo erhöhte Anfor- 
derungen an die Unterstützungsleistungen des Ge- 
werkvereins gestellt werden, Extrabeiträge. In 
den bestorganisierten englischen Gewerkvereinen 
wird von dem aufzunehmenden Mitgliede der 
Nachweis verlangt, daß es fähig ist, den vom 
Gewerkverein verlangten Lohn zu verdienen, hie 
und da auch, daß es die angemessene Lehrzeit be- 
standen hat. Kein Mitglied darf, wenn es die 
Unterstützung durch den Gewerkverein beansprucht, 
auf eigene Faust Forderungen an einen Arbeit- 
geber stellen; das einzelne Mitglied oder eine 
Gruppe von solchen hat vorher die Billigung 
seines Vorgehens durch den Verbandsvorstand ein- 
zuholen bzw. durch diesen oder dessen Bevollmäch- 
tigten die Forderung stellen zu lassen. Geschieht 
dies ohne Erfolg, und kommt es auch nicht zu 
einem Vergleiche, so hat das Mitglied die Arbeit 
niederzulegen. Wenn möglich wird ihm an anderer 
Stelle eine passende Arbeit nachgewiesen, nötigen- 
falls das Reisegeld bewilligt und für die Zeit der 
Arbeitslosigkeit eine Unterstützung, ein Wartegeld 
vom Verbande gezahlt. Ebenso geschieht es beim 
Streik, der von der Verbandsleitung gebilligt ist. 
Handelt es sich um einen großen Streitpunkt, so 
kann Arbeitsniederlegung auch der nicht in den 
Streitfall verwickelten Mitglieder eines Bezirkes 
oder des ganzen Gewerbes, selbstverständlich unter 
Einhaltung der Kündigungsfrist, entweder durch 
geheime Abstimmung der Mitglieder beschlossen 
Gewerk= und Arbeitervereine. 
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oder ohne weiteres von der Verbandsleitung an- 
geordnet werden. Nach Möglichkeit wird aber er- 
strebt, eine friedliche Vereinbarung zu erreichen 
und dadurch einen Streik zu verhüten oder einen 
ausgebrochenen Streik baldigst beizulegen. Dabei 
wird die Vermittlung der Behörden, einfluß- 
reicher Personen, der öffentlichen Meinung, die in 
der Presse und in Versammlungen angerufen wird, 
zu erreichen gesucht. Eine Vereinbarung kann her- 
beigeführt werden in privaten Verhandlungen der 
Vertreter des Gewerkvereins mit den Arbeitgebern, 
oder wenn dies vergeblich war, durch Verhand- 
lungen vor einem Einigungsamte oder Schieds- 
gerichte, möglichst gebildet aus Vertretern der 
Arbeiter= und der Arbeitgeberorganisati Ist 
keines vorhanden, so wird die Bildung eines solchen 
zu diesem Zwecke erstrebt, in Deutschland z. B. 
durch Anrufung des Gewerbegerichts als Eini- 
gungsamt. Die Erfahrungen der Arbeitskämpfe 
haben bei den Arbeiterorganisationen, aber auch 
bei manchen Arbeitgebern das Bestreben gezeitigt, 
solche Einigungsämter zu einer ständigen Ein- 
richtung zu gestalten und ihnen alle Streitigkeiten 
vorzulegen, besonders aber die Abschließung von 
Vereinbarungen über die Arbeitsbedingungen des 
Gewerbes in Tarifverträgen herbeizuführen, deren 
Einhaltung unter Kündigungsfristen die beider- 
seitigen Organisationen auf Treu und Glauben 
garantieren. In der Bindung der beiderseitigen 
Organisationen an die Entscheidung eines stän- 
digen Einigungsamtes, vor allem in der Er- 
strebung von Tarifverträgen muß die Ideallösung 
des gewerkschaftlichen Problems erblickt werden; 
in beiden Einrichtungen ist auch die beste Gewähr 
geboten gegen den Mißbrauch des Machtmittels, 
das die Gewerkvereinsorganisation darbietet, und 
zugleich deren Entfaltung als Friedensorganisa- 
tion nach Möglichkeit sichergestellt. 
II. Die Gewerkvereine in England. Hier 
stand die Wiege der Gewerkvereinsbewegung. Ihre 
Vorläufer sind die Gesellenladen, die sich in Eng- 
land, ähnlich wie in Deutschland, in der letzten 
Hälfte des Mittelalters bildeten, als infolge 
Schließung der Zahl der Zunftmitglieder die Ge- 
sellen sich mehrten, welche lebenslänglich Lohn- 
arbeiter blieben. Die Gesellenladen wurden bald 
gesetzlich verboten, dann den Zünften eingegliedert 
und untergeordnet, in welchen Lohn, Arbeits- 
zeit usw. behördlich geregelt war. Durch das 
Lehrlingsgesetz unter Königin Elisabeth 1562 
wurden auch die inzwischen entstandenen nicht 
zünftig geordneten hausindustriellen Betriebe ge- 
regelt, insbesondere bezüglich des Verhältnisses 
von Gesellen= und Lehrlingszahl, der Lehrzeit, 
Kündigungsfristen u. a. Der Lohn sollte jährlich 
von den Friedensrichtern und Stadtmagistraten 
als Maximallohn festgesetzt werden, dessen Über- 
schreitung bei Arbeitgebern und Arbeitern mit Ge- 
fängnisstrafe geahndet wurde. Unter dem Drucke 
der ausländischen Konkurrenz suchten sich die Ar- 
beitgeber diesen Bestimmungen zu entziehen; die 
 
	        
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