Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

749 
Arbeiter schlossen sich dem gegenüber um so fester 
in alten und neuen Vereinigungen zusammen, um 
durch Petitionen an das Parlament die Durch- 
führung der alten Bestimmungen zu erzwingen. 
Da dies nicht zum Ziele führte, gingen die Ar- 
beitervereinigungen wiederholt in fruchtlosen Auf- 
ständen vor. Unter dem Eindrucke der französischen 
Revolution setzten die Arbeitgeber 1799 und 1800 
eine Verschärfung der bisherigen Koalitionsver- 
bote durch, gemäß welchen alle Verabredungen, 
Versammlungen und Vereine der Lohnarbeiter 
zwecks Erzielung von Lohnaufbesserung mit Zucht- 
hausstrafe drakonisch bestraft wurden, während auf 
Koalition der Arbeitgeber nur Geldstrafen standen, 
die selten gefällt wurden. 1814 wurde das von 
Arbeitern immer noch angerufene Lehrlingsgesetz 
von 1562 auf Verlangen der Arbeitgeber auf- 
gehoben. Die Arbeiterkoalitionen verschwanden 
aber nicht, wurden vielmehr als Geheimverbände 
weitergeführt. 1824 gelang es im Parlamente, 
die alten Koalitionsverbote zu beseitigen, aber 
1825 setzten die Arbeitgeber wieder ein Gesetz 
durch, in welchem die Koalitionsfreiheit zwar fest- 
gehalten, aber alle Tätigkeit der Arbeiterver- 
einigungen mit schweren Strafen bedroht ward, 
ausgenommen Vereinbarungen von Löhnen und 
Arbeitszeit, welche die bei der Zusammenkunft 
Gegenwärtigen für sich verlangten. Es beginnt 
nun die Zeit der revolutionären Strömungen in 
den Arbeiterkreisen, der fehlgeschlagenen Versuche, 
durch Eroberung der politischen Macht ihre Lage 
zu bessern. An der stürmischen Chartistenbewegung 
der 1830er und 1840er Jahre waren die Ge- 
werkvereine nicht beteiligt, wenn auch manche ihrer 
Mitglieder sich derselben anschlossen. Die Ernüch- 
terung, welche bald eintrat, führte zur Einsicht, 
daß die „industrielle Diplomatie“ des Verhan- 
delns mit den Arbeitgebern allein zum Ziele führe. 
Gleichzeitig begann ein Umschwung der öffent- 
lichen Meinung zugunsten der Gewerkvereine. Die 
Vereinigung der christlichen Sozialisten setzte, als 
Arbeiter in Manchester und Sheffield nichtswür- 
dige Verbrechen sich hatten zuschulden kommen 
lassen, 1866 die Einsetzung einer königlichen Unter- 
suchungskommission durch, und als diese zu dem 
Ergebnis gelangte, daß Gewalttaten nur von den 
nichtorganisierten Arbeitern ausgegangen seien, 
war der Umschwung der öffentlichen Meinung ent- 
schieden. Verschiedene Gesetze, insbesondere die 
Gesetze von 1871 und 1876 erklärten ausdrück- 
lich die Gewerkvereine als erlaubte Verbindungen. 
Sobald sie ihre Statuten einreichen, erhalten sie 
das Recht der juristischen Persönlichkeit. Strafbar 
ist gemäß Gesetz von 1875 bei Arbeitsstreitigkeiten 
nur die Anwendung von Gewalt, Bedrohung, 
Vermögensbeschädigung und unliebsame Belästi- 
gung, worunter jedoch das Streikpostenstehen zum 
Zwecke der Erlangung oder Vermittlung von Mit- 
teilungen nicht zu rechnen ist. In dem Maße, als 
die englischen Gewerkvereine immer mehr auch die 
Förderung der staatlichen Schutzgesetzgebung sich 
  
Gewerk= und Arbeitervereine. 
  
750 
zur Aufgabe stellten, haben sie sich auch mehr und 
mehr mit Politik befaßt; in gewissem Sinne sind 
sie die Unterlage der Arbeiterpartei im Unterhause 
geworden, deren Mitglieder sich teilweise zum 
Sozialismus, aber nicht zum Marxismus be- 
kennen. Von religionsfeindlichen Strömungen 
halten sich die Gewerkvereine frei. 
Ende 1906 betrug die Zahl der englischen Ge- 
werkvereine, soweit sie dem Board of Trade bekannt 
waren, 1161 mit einem Gesamtmitgliederbestand 
wet 2106 283, darunter 112 453 weibliche Per- 
onen. "6% 
Die Ausgaben der 100 bedeutendsten Gewerk- 
vereine betrugen während der Jahre 1897/1906: 
17512000 Pfund Sterling. Davon kamen rund 
3874000 Pf. St. (22,1% ) auf Arbeitslosenunter- 
stützung, 2 345 000 Pf. St. (13,4% ) auf Kosten für 
Arbeitsstreitigkeiten und 7 438000 Pf. St. (42,5%) 
auf sonstige Wohlfahrtszwecke (vor allem Kranken-, 
Unfall-, Alters= und Begräbnisunterstützung). Die 
restlichen 3 855.000 Pf. St. (22,0 % ) wurden für 
Verwaltungskosten und vermischte Ausgaben ver- 
wendet. 
Die Zahl von 1161 Trade Unions zeigt die 
große Zersplitterung, die heute noch in der eng- 
lischen Gewerkvereinsbewegung besteht. Doch ist das 
trennende Moment nicht die religiöse oder partei- 
politische Gesinnung, sondern die Verschiedenheit 
der Distrikte, Grafschaften und Berufskategorien. 
Im letzten Jahrzehnt herrschte indes eine starke 
Tendenz zur Zentralisation. Wenn nun die Di- 
strikts-, Grafschafts= und Berufsorganisationen 
über ihre inneren Angelegenheiten auch weiterhin 
selbst bestimmen, so bilden sich doch immer mehr 
Föderationen der Verbände in ein und derselben 
Industriegruppe aus. Vorbildlich wurden die Berg- 
arbeiter, so daß die Miners Federation of Great 
Britain jetzt sämtliche Bergarbeiterorganisati 
des Landes umfaßt. Ebenso besteht eine Föderation 
für die Trade Unions in der Eisen= und Stahl., 
Maschinen= und Schiffsbauindustrie, ferner in der 
Textilindustrie. 
III. Die Gewerkvereine in Deutschland. 
Entsprechend der späten Entwicklung der Groß- 
industrie haben sich die Gewerkvereine in Deutsch- 
land erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. 
gebildet. Vorläufer derselben unter den im Hand- 
werke und in der Hausindustrie beschäftigten Ar- 
beitern, wie in England, finden sich hier weniger. 
Die deutsche Gewerkvereinsbewegung hat im Ge- 
gensatze zu der für sie vorbildlich gewordenen eng- 
lischen die Eigentümlichkeit, daß sie von Anfang 
an mit politischen Bestrebungen verquickt gewesen 
ist; darin liegt die Ursache ihrer vielfältigen Spal- 
tung wie auch der jahrzehntelangen Zurückhaltung 
weiter Arbeiterkreise. Die älteste und größte Ge- 
werkvereinsorganisation stellen dar 
1. die so zialdemokratischen sog. freien 
Gewerkschaften. Unter den sozialistischen Ar- 
beitern hat die Gewerkvereinsorganisation zuerst 
Boden gefaßt. Gemäß ihrem Bekenntnisse zum 
Lassalleschen ehernen Lohngesetz stand die sozial- 
demokratische Partei der Gewerkschaftsbewegung 
anfangs ohne Interesse gegenüber. Gleichwohl
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.