753
zahl der Verbände werden auch Extrabeiträge er-
hoben.
Internationale Beziehungen wurden im Jahre
1907 von 40 Verbänden unterhalten.
2. Die deutschen (Hirsch-Dunckerschen)
Gewerkvereine. Nach dem Vorbilde der eng-
lischen Gewerkvereine wurden die deutschen Ge-
werkvereine 1868 hauptsächlich durch die Agi-
tation des fortschrittlichen Reichstagsabgeordneten
Dr Max Hirsch ins Leben gerufen. Nach seinem
Plane sind die einzelnen Berufsvereine in Orts-
vereine gegliedert und letztere zu Ortsverbänden
(ähnlich den Gewerkschaftskartellen) zusammenge-
saßt. An der Spitze jedes Gewerkvereins steht ein
Generalrat, dessen Beamter, der Generalsekretär,
die laufenden Geschäfte führt, besonders auch die
Verbindung zwischen den Ortsvereinen und dem
Generalrate herstellt. Sämtliche Gewerkvereine
sind geeint zu einem „Verband der deutschen Ge-
werkvereine“ (gegründet Pfingsten 1869, Sitz Ber-
lin), an dessen Spitze der „Zentralrat“ steht. Bei-
rat des letzteren und geistiger Leiter des gesamten
Verbandes war bis zu seinem Tode (1905) Dr Max
Hirsch unter dem Titel Verbandsanwalt. Auf
dem Berliner Verbandstage (1907) wurde der
Verband bzw. die Verbandsleitung reorganisiert.
Der Posten des Verbandsanwalts, in dessen Hän-
den bisher die Leitung des ganzen Verbandes lag,
fiel weg. Der alte Zentralrat wurde in eine Kon-
trollinstanz umgewandelt. Jeder Gewerkverein
sendet einen Delegierten in den Zentralrat, Ge-
werkvereine mit 10 000 Mitgliedern senden für
jedes weitere bzw. angefangene Zehntausend noch
einen Delegierten. Neben den Zentralrat tritt ein
„geschäftsführender Ausschuß“ (zusammengesetzt
aus den Verbandsbeamten). Die Leitung des Ver-
bandes und des geschäftsführenden Ausschusses
liegt dem „Vorsitzenden“ ob (seit 1907 K. Gold-
schmidt als Nachfolger von M. Hirsch). Allgemeines
Verbandsorgan ist der „Gewerkverein“. Neben
diesem erscheinen noch 14 Organe der einzelnen
Gewerkvereine, vier von Ausbreitungsverbänden
bzw. Ortsverbänden herausgegebene Wochenblät-
ter und drei von Privatverlegern herausgegebene
Tageszeitungen. Die Gesamtauflage dieser Ge-
werkvereinspresse beträgt etwa 150 000 Exemplare.
Die Stärke der Gewerkvereine besteht in den
Unterstützungskassen, auf deren Förderung sie das
Hauptgewicht ihrer Tätigkeit legen. Jeder Gewerk-
verein besitzt eine Kranken= und Begräbnis-(Sterbe-)
Kasse, welche den Charakter einer gesetzlich einge-
schriebenen Hilfskasse hat. Im gesamten Verband
betrug im Jahre 1906 das Vermögen der Kranken-
kasse 1 372 350 M, das der Sterbekasse 935 316 M.
Mit besonderem Eifer hat man die Versicherung
gegen Arbeitslosigkeit gefördert. Die Arbeitslosen=
unterstützung führte zuerst 1881 der Gewerkverein
der Tischler ein; die andern Gewerkvereine folgten
bald. Im Jahre 1880 begann man mit einer all-
gemeinen Verbandsstatistik (Lohn und Arbeitszeit).
Dazu trat später eine Statistik der Lebensmittel-
und Wohnungspreise (von 3 zu 3 Jahren). Es
Gewerk= und Arbeitervereine.
754
besteht weiterhin eine Invalidenkasse, und es werden
Reise= und Umzugsunterstützungen gewährt. Sehr
zweckentsprechend ist die Einrichtung zur Gewährung
von Rechtsschutz. Die Ortsvereine haben einen geeig-
neten Rechtsverständigen, bei dem die Mitglieder un-
entgeltlich Rechtsbelehrung erhalten können. Auch
übernehmen die Gewerkvereine auf ihre Kosten die
Durchführung von Prozessen für ihre Mitglieder,
soweit keine Beleidigungs-, Ehescheidungs-, Erb-
schaftssachen in Betracht kommen.
Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine standen
von Anfang an unter dem politischen Einflusse der
Fortschrittspartei, der auch jetzt nicht ganz zurück-
gedrängt ist. In ihrer Agitation wie in den Partei-
blättern gibt sich des öfteren religiöse Freigeisterei
vereint mit Angriffen auf konfessionelle Anschau-
ungen kund. Infolge ihrer liberal-wirtschaftlichen
Grundsätze und im Interesse der eigenen Verbands-
kassen bekämpften die Hirsch-Dunckerschen Gewerk-
vereine die Einführung der staatlichen obliga-
torischen Versicherungen; zum staatlichen Arbeiter=
schutz hingegen nahmen sie eine verhältnismäßig
freundliche Stellung ein. Die Stellung zur Sozial-
demokratie wurde ursprünglich durch Annahme des
folgenden Antrags Hirsch auf dem Verbandstag
im Jahre 1876 bestimmt: „Mitglied kann jeder.
Arbeiter werden, welcher überhaupt den Grund-
sätzen der deutschen Gewerkvereine Hirsch-Duncker
huldigt und demgemäß durch einen Revers mit
seiner Unterschrift erklärt, weder Mitglied noch
Anhänger der Sozialdemokratie zu sein. . Seit
Anfang der 1890er Jahre begannen die einzelnen
Gewerkvereine den Revers abzuschaffen. Die
grundsätzliche Stellungnahme zur Sozialdemo-=
kratie sollte dadurch aber nicht geändert werden;
gleichwohl trat seitdem zeitweise, besonders wäh-
rend der Zollkämpfe 1901/08, ein starkes Heran-
rücken der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine an
die sozialdemokratische Partei ein. Gegenüber
dem Arbeitgeber vertreten die Gewerkvereine den
Standpunkt, daß zwischen Arbeiter und Arbeit-
geber eine natürliche Interessenharmonie bestehe,
deshalb eine Verbesserung der Lage der Arbeiter
tunlichst in friedlicher Verhandlung zu erstreben
und ein Ausgleich etwa ausbrechender Streitig-
keiten durch Schiedsgerichte und Einigungsämter
herbeizuführen sei. Darüber haben sie aber durch-
weg ein energisches Drängen auf Erreichung
besserer Lohn= und Arbeitsbedingungen vermissen
lassen, weshalb sie auch keine Zugkraft auf die
Arbeitermassen auszuüben vermochten. Das Inter-
esse für das Unterstützungskassenwesen trat in den
Vordergrund. Das Haupthindernis war bis zum
Tode von M. Hirsch die verknöcherte bureau-
kratische Verbandsleitung. Von unten herauf
suchte man im letzten Jahrzehnt die Agitation in
lebhafteren Fluß zu bringen, indem man neben den
Ortsverbänden eine Reihe von „Ausbreitungs-
verbänden“ für einzelne Landesteile bildete. Die
Gesamtbewegung suchte man zu beleben durch eine
Neuformulierung des Programms auf dem Ber-
liner Verbandstag 1907.