Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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zahl der Verbände werden auch Extrabeiträge er- 
hoben. 
Internationale Beziehungen wurden im Jahre 
1907 von 40 Verbänden unterhalten. 
2. Die deutschen (Hirsch-Dunckerschen) 
Gewerkvereine. Nach dem Vorbilde der eng- 
lischen Gewerkvereine wurden die deutschen Ge- 
werkvereine 1868 hauptsächlich durch die Agi- 
tation des fortschrittlichen Reichstagsabgeordneten 
Dr Max Hirsch ins Leben gerufen. Nach seinem 
Plane sind die einzelnen Berufsvereine in Orts- 
vereine gegliedert und letztere zu Ortsverbänden 
(ähnlich den Gewerkschaftskartellen) zusammenge- 
saßt. An der Spitze jedes Gewerkvereins steht ein 
Generalrat, dessen Beamter, der Generalsekretär, 
die laufenden Geschäfte führt, besonders auch die 
Verbindung zwischen den Ortsvereinen und dem 
Generalrate herstellt. Sämtliche Gewerkvereine 
sind geeint zu einem „Verband der deutschen Ge- 
werkvereine“ (gegründet Pfingsten 1869, Sitz Ber- 
lin), an dessen Spitze der „Zentralrat“ steht. Bei- 
rat des letzteren und geistiger Leiter des gesamten 
Verbandes war bis zu seinem Tode (1905) Dr Max 
Hirsch unter dem Titel Verbandsanwalt. Auf 
dem Berliner Verbandstage (1907) wurde der 
Verband bzw. die Verbandsleitung reorganisiert. 
Der Posten des Verbandsanwalts, in dessen Hän- 
den bisher die Leitung des ganzen Verbandes lag, 
fiel weg. Der alte Zentralrat wurde in eine Kon- 
trollinstanz umgewandelt. Jeder Gewerkverein 
sendet einen Delegierten in den Zentralrat, Ge- 
werkvereine mit 10 000 Mitgliedern senden für 
jedes weitere bzw. angefangene Zehntausend noch 
einen Delegierten. Neben den Zentralrat tritt ein 
„geschäftsführender Ausschuß“ (zusammengesetzt 
aus den Verbandsbeamten). Die Leitung des Ver- 
bandes und des geschäftsführenden Ausschusses 
liegt dem „Vorsitzenden“ ob (seit 1907 K. Gold- 
schmidt als Nachfolger von M. Hirsch). Allgemeines 
Verbandsorgan ist der „Gewerkverein“. Neben 
diesem erscheinen noch 14 Organe der einzelnen 
Gewerkvereine, vier von Ausbreitungsverbänden 
bzw. Ortsverbänden herausgegebene Wochenblät- 
ter und drei von Privatverlegern herausgegebene 
Tageszeitungen. Die Gesamtauflage dieser Ge- 
werkvereinspresse beträgt etwa 150 000 Exemplare. 
Die Stärke der Gewerkvereine besteht in den 
Unterstützungskassen, auf deren Förderung sie das 
Hauptgewicht ihrer Tätigkeit legen. Jeder Gewerk- 
verein besitzt eine Kranken= und Begräbnis-(Sterbe-) 
Kasse, welche den Charakter einer gesetzlich einge- 
schriebenen Hilfskasse hat. Im gesamten Verband 
betrug im Jahre 1906 das Vermögen der Kranken- 
kasse 1 372 350 M, das der Sterbekasse 935 316 M. 
Mit besonderem Eifer hat man die Versicherung 
gegen Arbeitslosigkeit gefördert. Die Arbeitslosen= 
unterstützung führte zuerst 1881 der Gewerkverein 
der Tischler ein; die andern Gewerkvereine folgten 
bald. Im Jahre 1880 begann man mit einer all- 
gemeinen Verbandsstatistik (Lohn und Arbeitszeit). 
Dazu trat später eine Statistik der Lebensmittel- 
und Wohnungspreise (von 3 zu 3 Jahren). Es 
Gewerk= und Arbeitervereine. 
  
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besteht weiterhin eine Invalidenkasse, und es werden 
Reise= und Umzugsunterstützungen gewährt. Sehr 
zweckentsprechend ist die Einrichtung zur Gewährung 
von Rechtsschutz. Die Ortsvereine haben einen geeig- 
neten Rechtsverständigen, bei dem die Mitglieder un- 
entgeltlich Rechtsbelehrung erhalten können. Auch 
übernehmen die Gewerkvereine auf ihre Kosten die 
Durchführung von Prozessen für ihre Mitglieder, 
soweit keine Beleidigungs-, Ehescheidungs-, Erb- 
schaftssachen in Betracht kommen. 
Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine standen 
von Anfang an unter dem politischen Einflusse der 
Fortschrittspartei, der auch jetzt nicht ganz zurück- 
gedrängt ist. In ihrer Agitation wie in den Partei- 
blättern gibt sich des öfteren religiöse Freigeisterei 
vereint mit Angriffen auf konfessionelle Anschau- 
ungen kund. Infolge ihrer liberal-wirtschaftlichen 
Grundsätze und im Interesse der eigenen Verbands- 
kassen bekämpften die Hirsch-Dunckerschen Gewerk- 
vereine die Einführung der staatlichen obliga- 
torischen Versicherungen; zum staatlichen Arbeiter= 
schutz hingegen nahmen sie eine verhältnismäßig 
freundliche Stellung ein. Die Stellung zur Sozial- 
demokratie wurde ursprünglich durch Annahme des 
folgenden Antrags Hirsch auf dem Verbandstag 
im Jahre 1876 bestimmt: „Mitglied kann jeder. 
Arbeiter werden, welcher überhaupt den Grund- 
sätzen der deutschen Gewerkvereine Hirsch-Duncker 
huldigt und demgemäß durch einen Revers mit 
seiner Unterschrift erklärt, weder Mitglied noch 
Anhänger der Sozialdemokratie zu sein. . Seit 
Anfang der 1890er Jahre begannen die einzelnen 
Gewerkvereine den Revers abzuschaffen. Die 
grundsätzliche Stellungnahme zur Sozialdemo-= 
kratie sollte dadurch aber nicht geändert werden; 
gleichwohl trat seitdem zeitweise, besonders wäh- 
rend der Zollkämpfe 1901/08, ein starkes Heran- 
rücken der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine an 
die sozialdemokratische Partei ein. Gegenüber 
dem Arbeitgeber vertreten die Gewerkvereine den 
Standpunkt, daß zwischen Arbeiter und Arbeit- 
geber eine natürliche Interessenharmonie bestehe, 
deshalb eine Verbesserung der Lage der Arbeiter 
tunlichst in friedlicher Verhandlung zu erstreben 
und ein Ausgleich etwa ausbrechender Streitig- 
keiten durch Schiedsgerichte und Einigungsämter 
herbeizuführen sei. Darüber haben sie aber durch- 
weg ein energisches Drängen auf Erreichung 
besserer Lohn= und Arbeitsbedingungen vermissen 
lassen, weshalb sie auch keine Zugkraft auf die 
Arbeitermassen auszuüben vermochten. Das Inter- 
esse für das Unterstützungskassenwesen trat in den 
Vordergrund. Das Haupthindernis war bis zum 
Tode von M. Hirsch die verknöcherte bureau- 
kratische Verbandsleitung. Von unten herauf 
suchte man im letzten Jahrzehnt die Agitation in 
lebhafteren Fluß zu bringen, indem man neben den 
Ortsverbänden eine Reihe von „Ausbreitungs- 
verbänden“ für einzelne Landesteile bildete. Die 
Gesamtbewegung suchte man zu beleben durch eine 
Neuformulierung des Programms auf dem Ber- 
liner Verbandstag 1907. 
  
 
	        
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