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Es seien aus dem neuen Gesamtprogramm fol-
gende Punkte hervorgehoben: „Die Gewerkvereine
stehen auf nationalem Boden.fie sollten, um
die Durchführung ihrer Aufgabe wirksam zu för-
dern, alle Arbeiter ohne Unterschied des partei-
politischen und religiösen Bekenntnisses umfassen.
Sie sind mithin religiös neutral und parteipolitisch
unabhängig. Die grundlegende Richtung der Ge-
werkvereine ist eine volkstümlich freiheitliche
Sie geben grundsätzlich dem Wege der Verständi-
gung den Vorzug, scheuen aber den Kampf nicht,
wo ihren berechtigten Forderungen die Anerken-
nung versagt wird oder ihre Rechte und Interessen
verletzt werden.“
TrotzF der offiziell proklamierten politischen Neu-
tralität werden aber tatsächlich die Gewerkvereine
Hirsch-Duncker dazu benützt, dem Linksliberalis=
mus wieder zu Ansehen unter den Arbeitermassen
zu verhelfen. Bei der Stagnation in den eigenen
Reihen und dem raschen Vorandringen der christ-
lichen und sozialdemokratischen Gewerkschaften
scheint ihnen keine Bedeutung in der Zukunft be-
schieden zu sein.
Die Mitgliederzahl betrug in den ersten
Jahren ihres Bestehens 30 000, ging aber bald auf
6000 zurück. Ende 1874 wurden wieder 22000
Mitglieder gezählt. Der Mitgliederbestand bezif-
ferte sich im Jahre 1901 auf 96 506, 1904: 111 889,
1906: 118 508 Mitglieder. Ende 1907 zählten die
23 Gewerkvereine in 1999 Ortsvereinen 100 249
männliche und 7060 weibliche, insgesamt also
108 889 Mitglieder. Es zählte der Gewerkverein
der Maschinenbau= und Metallarbeiter 40 700, der
Kaufleute 19 933, der Fabrik= und Handarbeiter
15 846, der Textilarbeiter 6107, der Holzarbeiter
5805, der Lederarbeiter 5254, der Schneider 4534,
der Bergarbeiter 2113 Mitglieder, die andern sämt-
lich weniger. Das Gesamtvermögen betrug im Jahre
1907:3968 949 M, pro Kopf 36,45 M. Die Gesamt-
einnahmen aller Kassen beliefen sich auf 2,8 Mill.
M., denen eine Gesamtausgabe von 2,6 Mill. gegen-
überstand.
3. Die christlichen Gewerkvereine.
Die Verquickung sozialdemokratischer und fort-
schrittlicher Parteibestrebungen mit den vorge-
nannten Gewerkvereinsorganisationen hinderte den
Anschluß der positiv-christlich gesinnten, insbeson-
dere der katholischen Arbeiter an dieselben. Schon
Bischof v. Ketteler trat (vugl. Pfülf, Bischof v. Ket-
teler II 202) für die Gewerkvereinsorganisation ein,
die er sich, wie aus seinen hinterlassenen Schriften
hervorgeht, als einheitliche, obligatorische Stan-
desvertretung unter Ausschluß jeglicher Politik
in gesetzlichem Rahmen dachte; durch letztere Be-
dingung glaubte er die Garantie geboten gegen
das Eindringen revolutionärer wie antireligiöser
Bestrebungen. Ende 1878 wurde von sozial-
demokratischen und katholischen Bergleuten zu
Essen die Gründung eines Verbandes rheinisch-
westfälischer Bergleute, der sich auf religiös und
politisch neutralen Boden stellte, in die Wege ge-
leitet. Aus katholischen Kreisen entstand eine
Opposition, die von den hervorragend politisch
tätigen sozialdemokratischen Führern, die in dem
Gewerk= und Arbeitervereine.
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Verband das Übergewicht hatten, Gefahren für die
christlichen Arbeiter fürchtete. Von dieser Seite
wurde darum die Gründung eines christlich-sozialen
Bergarbeiterverbandes in die Hand genommen;
man mußte jedoch von der Gründung zur Zeit
Abstand nehmen, da die Zechenverwaltungen den
Mitgliedern auch eines christlichen Verbandes mit
Kündigung drohten, die bei der schlechten Kon-
junktur zu befürchten war. Das Sozialistengesetz
beseitigte bald auch den neutralen Verband. 1882
bildete sich zu Bochum ein christlich-sozialer Ar-
beiterverein, dem 1885 bereits 237 Zweigvereine
angeschlossen waren; der Verein beschäftigte sich
hauptsächlich mit Knappschaftsfragen und Berg-
arbeiterschut. Ein Komitee von Bergarbeitern
stand an der Spitze. 1886 konstituierte sich der
Verein als Rechtsschutzverein, der bald 20 000
Mitglieder zählte und seit 1889 ein Fachorgan
„Kohle und Eisen“ herausgab. Infolge von
Zwistigkeiten ging der Rechtsschutzverein 1891 ein.
Ein um diese Zeit gegründeter christlicher Berg-
arbeiterverband „Glück auf“, der es bis zu 1000
Mitgliedern brachte, ging Ende 1892 ein. Ende
1894 wurde sodann der Gewerkverein christlicher
Bergarbeiter Deutschlands in Essen gegründet.
Ihm folgten in den nächsten Jahren die Gewerk-
vereine christlicher Arbeiter anderer Berufe, die
teilweise, wie z. B. die Textilarbeiterverbände zu
Aachen und Krefeld, aus den schon längere Zeit
in den katholischen Arbeitervereinen bestehenden
Fachabteilungen oder Fachgenossenschaften hervor-
gingen. Die Gründung christlicher Gewerkvereine
war in Fluß gekommen, ihre Mitgliederzahl nahm
rasch zu, und sie bewährten sich bald in der wäh-
rend der steigenden Konjunktur vielerorts auf-
tretenden Lohnbewegung. Pfingsten 1899 tagte
zu Mainz der erste Kongreß der christlichen Ge-
werkvereine Deutschlands, der unter anderem fol-
gende Leitsätze für christliche Gewerkvereine fest-
setzte: „Die Gewerkschaften sollen 1) interkonfes-
sionell sein, d. h. Mitglieder beider christlichen
Konfessionen umfassen, aber auf dem Boden des
Christentums stehen; 2) unparteiisch sein, d. h. sich
keiner bestimmten politischen Partei anschließen.
Die Erörterung parteipolitischer Fragen ist fern-
zuhalten, aber die Herbeiführung gesetzlicher Re-
formen auf dem Boden der bestehenden Gesell-
schaftsordnung zu erörtern. Zentralorganisationen
sind zu erstreben. Aufgabe ist die Hebung der
wirtschaftlichen und geistigen Lage der Berufs-
genossen durch Stellungnahme zu der Frage des
Lohnes, der Arbeitszeit usp. In Ermanglung
genügend gebotener gesetzlicher Versicherung für
Krankheit, Unfälle, Arbeitslosigkeit, Arbeitsnach-
weis und Invalidität sind entsprechende Kassen zu
gründen. Ferner sind die Gewährung von Rechts-
schutz, die Errichtung von Arbeiterwohlfahrtsein-
richtungen, Arbeiterausschüssen, Gewerbegerichten
zu erstreben. Mittel zur Durchführung dieser Auf-
gaben sind Erhebungen über die Verhältnisse der
Arbeiter, fachlich belehrende und bildende Vor-