Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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träge, Schaffung eines Vereinsorgans, Verhand- 
lungen mit den Arbeitgebern, Eingaben und Pe- 
titionen an die Arbeitgeber, die Gewerbeinspektion, 
die Behörden, Handelskammern, Parlamente usw. 
Die Taktik der Gewerkschaften wird durch die Er- 
wägung bestimmt, daß Arbeiter und Unternehmer 
gemeinsame Interessen haben, daß beide Teile 
nicht allein als zusammengehörige Faktoren der 
Arbeit der letzteren Recht auf angemessene Ent- 
lohnung gegenüber dem Kapital, sondern vor 
allem die Interessen der Erzeugung von Gütern 
gegenüber dem Verbrauch derselben zu. vertreten 
haben. Beide Teile beanspruchen mit Recht eine 
größtmögliche Verzinsung ihres in der Erzeugung 
von Gütern enthaltenen Kapitals: der Unter- 
nehmer seines Kapitals und der Arbeiter seiner 
Arbeitskraft. Ohne beides, Kapital und Arbeits- 
kraft, keine Produktion. Darum soll die ganze 
Wirksamkeit der Gewerkschaften von versöhnlichem 
Geiste durchweht und getragen sein. Die Forde- 
rungen müssen maßvoll sein, aber fest und ent- 
schieden vertreten werden. Der Ausstand darf aber 
nur als letztes Mittel, und wenn Erfolg verheißend, 
angewandt werden.“ 
Auf dem zweiten Kongresse zu Frankfurt a. M. 
Pfingsten 1900 wurde an Stelle des in Mainz 
konstituierten provisorischen Zentralausschusses die 
Gründung eines Gesamtverbandes der christlichen 
Gewerkvereine Deutschlands beschlossen, die Zen- 
tralorganisation als Organisationsform erklärt, 
der Ausbau des Unterstützungskassenwesens befür- 
wortet, Grundsätze für das Vorgehen bei Lohn- 
streitigkeiten unter Ablehnung des Klassenkampfes 
ausgestellt, ein gesetzlicher Maximalarbeitstag von 
10 Stunden gefordert, der in gesundheitsschäd- 
lichen Berufen auf 7 bis 8 Stunden heraufzu- 
setzen sei. Ende 1900 wurde der Gesamtverband 
der christlichen Gewerkschaften Deutschlands als 
Kartellvereinigung gegründet, an deren Spitze ein 
Ausschuß steht, der wiederum einen geschäfts- 
führenden Vorstand von fünf Mitgliedern wählt. 
Zweck des Gesamtverbandes ist Wahrung der 
gemeinsamen Interessen durch einheitliches Vor- 
gehen, Durchführung der Kongreßbeschlüsse, Ver- 
mittlung gegenseitiger Unterstützung, Veranstal- 
tung von Erhebungen, Herausgabe eines Korre- 
spondenzblattes. Der Gesamtverband errichtete 
im Jahre 1903 ein Generalsekretariat in Köln 
(Generalsekretär Adam Stegerwald). 
Die Angriffe der sozialdemokratischen Gewerk- 
schaften auf die christlichen Gewerkvereine als Son- 
dergründungen zur Zersplitterung und Schwä- 
chung der Arbeiter regten schon auf dem Frank- 
furter Kongresse eine Diskussion an über die 
Stellung der christlichen Gewerkvereine zu den 
sozialdemokratischen Gewerkschaften und damit 
über die Frage, ob eine einheitliche, alle Arbeiter 
eines Berufes umfassende Organisation unter Fern- 
haltung aller Erörterungen religiöser und partei- 
politischer Fragen, die als neutraler Gewerkverein 
bezeichnet wurde, zu erstreben sei. Der mit der 
Gewerk= und Arbeitervereine. 
  
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Beratung dieser Frage betraute Ausschuß des Ge- 
samtverbandes gab in der Sitzung vom 8. Nov. 
1900 zu Köln folgende Erklärung: „Wir erklären 
es als selbstverständlich und mit Nachdruck, daß 
wir nach wie vor in Durchführung der gewerk- 
schaftlichen Ziele die christlichen Grundsätze als 
Richtschnur anerkennen. Eine Vereinigung aller 
Arbeiter der verschiedenen Berufe in einheitlichen 
Organisationen ist allerdings das zu erstrebende 
Ziel, doch muß verlangt werden, daß solche Ver- 
bände in ihrer Wirksamkeit den christlichen Grund- 
sätzen nicht widersprechen. Da unter den obwalten- 
den Verhältnissen in absehbarer Zeit solche Gewerk- 
schaften ausgeschlossen erscheinen, halten wir an 
dem auf dem ersten Kongresse der christlichen Ge- 
werkschaften zu Mainz aufgestellten Programm fest, 
nach welchem unsere christlichen Gewerkschaften 
interkonfessionell und politisch unparteiisch auf 
christlicher Grundlage bestehen sollen.“ Der dritte 
christliche Gewerkschaftskongreß in Krefeld Pfing- 
sten 1901 erklärte sich mit 99 460 gegen 7730 
Stimmen mit der genannten Kölner Resolution 
einverstanden, „da die Frage der einheitlichen 
Organisation der deutschen Arbeiter vorderhand 
keine praktische Bedeutung hat und die Verwirk- 
lichung derselben in absehbarer Zeit nicht zu er- 
warten ist. Eine abweichende Meinung in dieser 
Frage schließt die Beteiligung an den Gewerk- 
schaftskongressen und dem Gesamtverbande der 
christlichen Gewerkschaften Deutschlands nicht aus“. 
Die grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit 
den sozialdemokratischen Gewerkschaften dauern 
sort. Gleichwohl arbeiten beide Organisationen 
in vielen Berufen auf dem Gebiete des Tarif- 
wesens praktisch zusammen. Die christlichen Ge- 
werkschaften sind insbesondere seit dem Jahre 1905 
sehr erstarkt. In den Jahren 1903/07 waren sie 
an 1874 Tarifabschlüssen beteiligt. 1361 Lohn- 
bewegungen wurden allein von ihnen in den be- 
zeichneten Jahren geführt. Die Beiträge der Mit- 
glieder bewegen sich zwischen 50 bis 70 Pfennig 
wöchentlich. Die christlichen Gewerkschaften ver- 
fügten im Jahre 1907 über 22 Gewerkschafts- 
blätter, die alle ohne Ausnahme von Arbeitern 
redigiert werden, und über rund 250 Gewerk- 
schaftsbeamte. Im Westen Deutschlands sind die 
christlichen und die sozialdemokratischen Gewerk- 
schaften annähernd gleich stark. Die christlichen 
Gewerkschaften haben nicht bloß einen vollen 
Achtungserfolg in der öffentlichen Meinung er- 
rungen, sondern sie haben auch die Arbeiter- 
interessen energisch gefördert und gleichzeitig die 
Arbeiter gegen ein sozialistisches Arbeitsmonopol 
geschützt; sie berechtigen vollauf zu der Hoffnung, 
daß sie einer gesunden gewerkschaftlichen Arbeiter- 
bewegung die Bahn brechen werden, der die Arbeit- 
geber, die Gesetzgebung und die Gesellschaft die 
volle Anerkennung nicht werden versagen können. 
Die Mitgliederzahl der christlichen Ge- 
werkschaften betrug am Schlusse des Jahres 1907 
365243; davon entftelen auf die 20 Organisationen,
	        
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