Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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1905 sind unter dem Einflusse gewerkschafts- 
feindlicher Industrieller Vaterländische Arbeiter- 
vereine oder Werksvereine, letztere auf einzelne 
große Betriebe beschränkt, gegründet zu dem Zwecke, 
die Mitglieder durch Gewährung von Wohlfahrts- 
einrichtungen zum Verzicht auf gewerkschaftliche 
Organisation, besonders den Streik, zu verpflich- 
ten. Die Gewerkschaften gaben ihnen den Titel 
„Gelbe Gewerkschaften“. Sie wiesen 1908 un- 
gefähr 100 Vereine mit 80 000 Mitgliedern auf. 
Für ihre Verbreitung interessieren sich, auch durch 
Geldunterstützung, gewerkschaftsfeindliche Arbeit- 
geberverbände. 
Literatur. Müller, Kath. Arbeitervereine 
(M.-Gladbach 1907); Der Verband Süddeutscher 
kath. Arbeitervereine (München 1906); Leitsätze für 
Behandlung der Arbeiterfrage (Berlin, Kaiserstr. 37, 
Verbandssekretariat); Just, Evang. Arbeitervereine 
(1906); Die Gelben (Köln, Palmstr. 14 (A. Steger- 
waldl, 1908); Lebius, Die gelbe Arbeiterbewegung; 
Materialsammlung (1909). Aug. Pieper.) 
Gewicht s. Maß und Gewicht. 
Gewinnbeteiligung s. Lohn. 
Gewissen und Gewissensfreiheit 
stehen in demselben Verhältnis zueinander wie Re- 
ligion und Religionsfreiheit, nur daß letztere als 
der engere Begriff in der allgemeinen Gewissensfrei- 
heit wie der Teil im Ganzen eingeschlossen liegt. 
Gleichwie die Religionsfreiheit als staatsrechtlicher 
Begriff ohne die Grundlegung der Religion nicht 
begründet werden kann, so muß auch die Natur 
des Gewissens dem Recht auf Gewissensfreiheit zur 
Grundlage dienen, wobei allerdings unter Aus- 
schluß alles rein Moraltheologischen nur solche 
Wesensmomente Berücksichtigung erheischen, die 
auch für die Gestaltung und Handhabung der 
staatsrechtlichen Grundsätze von ausschlaggebender 
Bedeutung sind. Deun es leuchtet ein, daß z. B. 
die materialistische Begründung des Gewissens, 
wenn sie richtig wäre, ganz andere praktische Kon- 
sequenzen für die Gewissensfreiheit nach sich zöge 
als der theistisch-christliche Begriff vom Gewissen. 
Der christliche Staat wird eben das christliche, 
zum mindesten aber das theistisch gebildete Ge- 
wissen zum Grund= und Eckstein seiner Gesetz- 
gebung machen und auf die grundfalschen Ge- 
wissenstheorien des Materialismus, Pantheismus, 
Monismus usw. keinerlei Rücksicht zu nehmen 
brauchen. 
I. Das Gewissen als allgemeine Tatsache be- 
darf hierorts keines ausführlichen Beweises, da 
einen solchen die Moralphilosophie in großem 
Stile zu führen berufen ist. (Vgl. W. Schneider, 
Allgemeinheit u. Einheit des sittlichen Bewußt- 
seins (1895]; V. Cathrein, Moralphilosophie 1 
[1904] 569 ff.) Allein von einer wissenschaft- 
lichen Analyse und Erklärung dieser allgemeinen 
Erscheinung kann auch in einem Staatslexikon um 
so weniger Umgang genommen werden, als von 
ihr der Begriff des Gewissens selbst letztlich ab- 
hängt, welcher für die Ausgestaltung der Grundsätze 
Gewicht — Gewissen ufsw. 
  
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über die Gewissensfreiheit nicht gleichgültig ist. 
Wir geben zuerst eine gedrängte kritische Ubersicht 
der falschen Ansichten über Entstehung und Wesen 
des Gewissens, um ihnen sodann in mehr dar- 
stellender als begründender Form die bheistisch- 
christliche Auffassung entgegenzustellen. 
1. Am zynischsten verfährt der Materialis= 
mus, wenn er das Gewissen zu einer bloßen 
Funktion des Gehirns oder einem physikalisch- 
chemischen Nervenvorgang herabwürdigt. Nach 
Max Nordau ist das Gewissen ein anerzogenes 
Vorurteil, eine „konventionelle Lüge“. Der Er- 
finder des Ubermenschentums, Nietzsche, erklärt das 
gute Gewissen für eine Begleiterscheinung „guter 
Verdauung“ und findet den Gewissensbiß „un- 
anständig“, wie ihm denn die ganze Moral als 
„eine lange beherzte Fälschung“ vorkommt. Eine 
Widerlegung solcher Abgeschmacktheiten halten wir 
unter unserer Würde. Sachlich nur wenig ver- 
schieden ist der in außerchristlichen Gelehrtenkreisen 
weitverbreitete Evolutionismus, welcher die 
vormals so beliebte, aber noch viel zu fromme 
Gewissenstheorie Kants fast gänzlich zu verdrängen 
droht. In der darwinistischen Voraussetzung, daß 
die Menschheit im Laufe von Jahrmillionen in 
leiblicher und geistiger Beziehung sich aus dem 
Tierreich entwickelt habe, wird das Gewissen zum 
bloßen Sammelpunkt tausendjähriger, im Kampfe 
ums Dasein als Instinkte vererbter und als Be- 
gleiterscheinungen von guten und schlechten Hand- 
lungen verfestigter Erfahrungen herabgesetzt. Nach 
Herbert Spencer, dem Hauptvertreter dieser Rich- 
tung, ist dann das Gewissen nichts anderes als 
„organisierte Erfahrung“, und er meint, daß das 
Pflichtbewußtsein selbst ODunden angezüchtet werden 
könne (Prinzipien der Ethik III1895J336). Selbst- 
verständlich steht und fällt diese ganze Erklärung 
mit der materialistischen Abstammungslehre selbst, 
als deren größte Willkürlichkeit die gewaltsame 
Niederreißung der Schranken zwischen Mensch und 
Tier zu bezeichnen ist. Wenn zwar kein innerer 
Widerspruch in der Annahme einer leiblichen Ab- 
stammung des Menschen vom Tiere aufgezeigt 
werden kann, so liegt doch eine metaphysische Un- 
möglichkeit dafür vor, daß auch seine mit Vernunft 
und Freiheit begabte Geistseele sich aus der Tier- 
seele herausdifferenziert habe. Dann ist aber auch 
seine Sittlichkeit und sein Gewissen durch tierische 
Entwicklung nicht verständlich. Dazu kommt ein 
anderes. Die Wahrheiten der sittlichen Ordnung 
sind so notwendig und ewig wie die Mathematik 
oder Metaphysik, nur daß ihnen als auszeichnen- 
des Merkmal noch die Aureole heiliger Unverletz= 
lichkeit und absoluter Verpflichtungskraft anhaftet. 
Nach der atheistischen Entwicklungslehre müßte es 
aber möglich sein, daß bei andersgerichtetem Ent- 
wicklungslauf die jetzt gut und bös genannten In- 
stinkte vor alters eine umgekehrte Bahn einge- 
schlagen hätten, so daß das Gute bös, das Böse 
gut hätte werden können. Eine Umwertung aller 
sittlichen Begriffe ins gerade Gegenteil wäre denk-
	        
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