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Schon das natürliche Sittengesetz und das Ge-
wissen protestieren dagegen ebenso laut wie über-
haupt alle positiven Religionen, welche entweder
auf christlichem Boden stehen, wie die protestan-
tischen Bekenntnisse, oder wenigstens den Theismus
anerkennen, wie das Judentum und der Islam.
Deshalb beansprucht auch die katholische Kirche in
Glaubens= und Sittensachen für sich das Recht
der Strafgewalt nicht minder wie der Staat auf
allen Gebieten, die zu seiner Rechtssphäre gehören.
Eine sehr schwierige Frage hingegen entsteht in
der Bestimmung der Grenzen, bis zu denen der
Staat in der Gewährung einer ungehemmten
Außerung der religiös-sittlichen Uberzeugung in
Wort oder Schrift gehen darf. Nun kann es nicht
dem geringsten Zweifel unterliegen, daß dem
Staate die Gewährung einer schrankenlosen
Gewissensfreiheit ebenso unmöglich ist als das
Zugeständnis einer unbeschränkten Religionsfrei-
heit. Würde dieses Sichgehenlassen doch gleich-
bedeutend sein mit der Freigabe aller Art von
Irreligiosität, Unsittlichkeit, Roheit und Torheit,
womit jedes geordnete und friedliche Zusammen-
leben der Staatsuntertanen einfachhin zur Unmög-
lichkeit würde. Die stürmische Forderung der
Schrankenlosigkeit des Gewissens, wie sie manchen
Herrenmenschen, Vertretern der „Nacktkultur“
und der sog. „unabhängigen Moral“ als Ideal
vorschwebt, ist im Grunde genommen nur ein
Aushängeschild für schamlose Gewissenlosigkeit,
für die es kein Recht im Himmel und auf Erden
gibt und geben kann. Man möchte gerne den
Staatsmann und das endliche Schicksal eines
Staates einmal sehen, der den Diebstahl und
Meuchelmord als erlaubt zulassen oder straffrei
ausgehen lassen wollte. Nur zu bald würde sich
zeigen, daß eine Rotte von Spitzbuben und Re-
volverhelden keine menschliche Gesellschaft mehr
wäre, sondern eine Menagerie wilder Tiere: der
atheistische Revolutionsstaat Frankreichs hat eine
drohende Warnungstafel aufgerichtet für ewige
Zeiten. Selbst die gegenwärtige, im Atheismus
ihr Heil suchende Republik der Franzosen besitzt
Einsicht und Selbstbeherrschung genug, um nicht
alles zu gestatten, was das schwankende Staats-
schiff unter der Flagge ungehemmter Gewissens-
freiheit auf Klippen und Untiefen führen und
einen sichern Schiffbruch in Aussicht stellen würde.
Die staatsgefährlichen Machenschaften der anti-
patriotischen Hervéisten, die durch Untergrabung
des Patriotismus und des militärischen Gehor-
sams im Heere das Vaterland in äußerste Gefahr
bringen, kann auch eine Jakobinerregierung nicht
ruhig gewähren lassen. Wie weit freilich der
Staat die Grenzen im einzelnen stecken darf, bis
zu denen die Gewissensfreiheit im Sinne von
Duldung des an sich Schlechten und Uner-
laubten zu gestatten ist, darüber läßt sich schwer-
lich eine bestimmte Regel aufstellen. Von vorn-
herein ist klar, daß der Staat weder die Befugnis
noch die Machtmittel besitzt, alle Sünden und
Gewissen ufw.
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Missetaten seiner Untertanen, welche überall vor-
kommen oder vorkommen können, aufzuspüren, zu
unterdrücken, zu verhindern und zu bestrafen. In
einem solchen Polizeistaat ließe sich schlechterdings
nicht leben und selbst eine Religionsgemeinschaft,
deren Kirchendiener zur Aufspürung und Anzeige
von Verbrechen in alle Häuser und Familien ein-
drängen, sähe sich von ihren Schäflein bald ver-
lassen. Im allgemeinen wird der Staat seiner
Aufgabe entsprechend nur solche Verbrechen zur
Rechenschaft ziehen, welche die äußere Rechts-
ordnung gröblich verletzen und die Sicherheit des
Staatswesens und des Bürgertums ernstlich in
Frage stellen. Aber auch hier darf er zu einem
ehrlichen Gewissensirrtum, wie z. B. Verweige-
rung des Eides, sich ganz anders stellen als zum
gemeinen Verbrechen, wie z. B. Mädchenhandel
und öffentlicher Unsittlichkeit. Es kann nämlich
eine ehrliche, auf unüberwindlichem Irrtum be-
ruhende Gewissensüberzeugung geben, die den
Irrenden in seinem Gewissen zu etwas verpflichtet,
was der Staat von seinem Standpunkte aus ent-
weder gebieten oder verbieten muß. Ohne auf
sein gutes Recht, eventuell unter Anwendung von
Gewalt die Erfüllung des Staatsgebotes zu er-
zwingen, Verzicht leisten zu müssen, wird er zur
mööglichsten Vermeidung von Gewissenszwang über-
all da Milde und Nachsicht walten lassen, wo das
falsche Gewissen des renitenten Untertans nicht
aus Frivolität und Gottlosigkeit, sondern vielmehr
aus wahrer Religiosität und persönlicher Fröm-
migkeit hervorgeht. Deshalb gestattet das Gesetz
den Mennoniten, die wegen angeblicher Unerlaubt=
heit des Eides nicht schwören dürfen, daß sie statt
der üblichen Eidesformel die in ihrer Sekte an
Eides Statt zugelassene Beteuerungsformel gebrau-
chen, während sonst nach § 69 der deutschen Straf-
prozeßordnung die Ablehnung des Eides aller-
dings mit Geld= und Haftstrafe bedroht wird.
Freilich würde der Staat in die ärgste Verlegen-
heit geraten, wenn nicht etwa nur in selteneren
Fällen, sondern in geschlossenen Massen solche auf-
richtige Gewissensirrtümer um sich griffen, die den
Bestand des Staates in seinen Grundfesten er-
schütterten. Auf das seltsame Gewissensverbot
des sektiererischen „Bundes der christlich getauften
Gläubigen“, eine Waffe oder ein Gewehr anzu-
rühren, kann vielleicht im einen oder andern Aus-
nahmefall Rücksicht genommen werden, wenn auch
die Heeresverwaltung aus Achtung vor der Ge-
wissensfreiheit dazu durchaus nicht verpflichtet
wäre. Aber wenn das ganze deutsche Heer, wie
von einer Massensuggestion ergriffen, sich zu einer
solchen verderblichen Uberzeugung bekennte, wie
unlängst der elsässische Gardegrenadier Tröhler,
so wäre ja das deutsche Vaterland macht- und
wehrlos den Händen seiner Feinde ausgeliefert.
Verständige Belehrung und Aufklärung durch die
Militärgeistlichkeit dürfte auch hier mehr aus-
richten als schroffe Anwendung von Zwangs-
gewalt.