Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Im Namen der Gewissensfreiheit verlangt die 
moderne Welt heutzutage ein unbeschränktes Recht 
auf freie Forschung und freie Lehre. Während 
die Forschungsfreiheit als rein innerlicher 
Gedankenvorgang in der stillen Studierstube des 
Gelehrten den Staat und die Behörden absolut 
nichts angeht und am eigenen Gewissen des For- 
schers selbst ihre innere Grenze findet, kann hin- 
gegen auch der Staat zwar eine sehr weitgehende 
Lehrfreiheit ertragen, aber doch nicht eine 
solche, welche die Grundlagen der Gesellschaft und 
des Staates offen bedroht und untergräbt. Grund- 
sätzlich gesprochen ist die Forschungs= und Lehr- 
freiheit ein unschätzbares persönliches und soziales 
Gut und als eines der kostbarsten Freiheitsrechte 
zugleich unantastbar, wofern sie nur, von auf- 
richtigem Wahrheitsstreben geleitet, keine andere 
Schranke anerkennt als den sicher erkannten Irr- 
tum. Aber selbst wo sie bei der Suche nach der 
Wahrheit unbewußt in die Irre geht, da braucht 
der Staat sich nicht gleich zu beunruhigen, weil 
erfahrungsgemäß die Wissenschaft über kurz oder 
lang die Fehlgriffe, die sie nicht immer vermeiden 
kann, wieder selbst korrigiert und der Wahrheit 
nachträglich zum Siege verhilft. Die Wissenschaft 
ist eine freie, erhabene Königin, der kein edler und 
gebildeter Mensch seine Huldigung versagt, und 
keine Macht auf Erden, am wenigsten die katho- 
lische Kirche, hat entweder die Machtbefugnis oder 
die Absicht, sie zu knechten und in unwürdige 
Fesseln zu schlagen. Freilich muß sie auch wie 
eine Königin aufzutreten wissen und sich niemals 
zur feilen Dirne herabwürdigen lassen. Die wahre 
Wissenschaft braucht nicht zu fürchten, daß sie ent- 
weder mit der ausgemachten Kirchenlehre oder den 
gerechten Staatsgesetzen jemals in einen wirklichen 
Gegensatz trete. Allein es gibt doch eine Reihe 
Glaubensfreiheit — Gleichgewicht, politisches. 
  
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Auch die katholische Kirche dürfte nach dem Vor- 
gange des großen Papstes Leo XIII. nur für eine 
bessere Ausgestaltung und möglichst große Ver- 
breitung der guten Presse, namentlich der katho- 
lischen, nicht aber für die Aufhebung oder Knebe- 
lung der einmal vorhandenen und unabschaffbaren 
Preßfreiheit zu haben sein. Unter der Herrschaft 
der persönlichen Freiheitsrechte, die den modernen 
Staat auszeichnen, wäre die staatliche Abschaffung 
wegen Gefahr einer Revolution nicht nur prak- 
tisch undurchführbar, sondern hätte auch sofort die 
ungewollte Entstehung einer noch schlimmeren 
Dunkel= und Winkelpresse im Geleite, deren unter- 
irdische Minierarbeit die leider schon vorhandenen 
Begleitübel derart ins Ungemessene steigern dürf- 
ten, daß die letzten Dinge schlimmer würden als 
die ersten. Soll nun vielleicht der Staat, um sein 
eigenes Gewissen zu salvieren, die Präventiv= 
zensur unseligen Andenkens wieder zur Einfüh- 
rung bringen, indem er allen Büchern und Zei- 
tungen vor ihrem Erscheinen das staatliche Im- 
primatur erteilte? Allerdings schauen ernste 
Männer verzagten Blickes recht schwarz in die 
Zukunft, wenn sie die schmerzliche Beobachtung 
machen, daß das hehre Recht der Druck= und 
Preßfreiheit in schnödester Weise zur Herausgabe 
der gottlosesten und unsittlichsten Druckwerke und 
Bilder mißbraucht wird. Das Unheil, das eine 
schlechte und zügellose Presse namentlich unter 
unserer Jugend anrichtet, schreit zum Himmel und 
ist durch keine nachträgliche Gegenmaßregel wie- 
der gutzumachen. Trotzdem würde das öffentliche 
Rechtsbewußtsein die Wiedereinführung der Zensur 
für eine unerträgliche Tyrannei, der praktische 
Staatsmann zudem für eine unnütze und unaus- 
führbare Maßregel halten, die von allen Gesell- 
schaftsklassen ohne Unterschied der Konfession und 
von sog. Forschungsergebnissen und Lehren, welche politischen Richtung auf den schärfsten Widerstand 
schon auf den ersten Blick so offen gegen den Be= stieße. So wird denn der Staat die Ausschrei- 
stand von Ordnung und Zucht sich kehren, daß tungen des Büchermarktes und der Presse als 
auch der duldsamste Staat nicht achtlos an ihnen bedauerlichen Mißbrauch eines an sich heiligen 
mit verbundenen Augen vorübergehen darf. Wenn Rechtes geduldig ertragen müssen, aber nicht ohne 
ein Universitätslehrer es wagen sollte, seine Lehr= die schon bestehende Preßgesetzgebung mit ihren 
kanzel zur wissenschaftlichen Vertretung der Er= Paragraphen über Repression gottloser und un- 
laubtheit des Ehebruchs oder politischen Mordes, sittlicher Druckerzeugnisse in Wort und Bild desto 
zur Verbreitung von sozialistisch= anarchistischen rücksichtsloser anzuwenden, im Notfall aber vom 
Umsturzideen, zur Proklamierung des Proudhon= Parlament sich noch schärfere Waffen zur Be- 
schen Satzes: „Eigentum ist Diebstahl“, schnöde kämpfung der gröbsten Auswüchse zu verschaffen 
zu mißbrauchen, so würden einen solchen Seelen- (s. d. Art. Presse, Preßgesetzgebung, Preßfreiheit). 
verkäufer nicht nur die Staatsbehörden auf dem 3. Sehr häufig heißt Gewissensfreiheit das- 
Disziplinarwege, sondern auch seine eigenen Kol= selbe wie Religionsfreiheit, worüber s. d. Art. 
legen auf moralischem Wege entrüstet von ihren Bekenntnisfreiheit. — Vgl. noch Lehmkuhl, Gewis- 
Rockschößen abschütteln. sens= und Kultusfreiheit (Stimmen aus Maria= 
Wie steht es aber um das Verhältnis des staat= Laach XI 184 ff); Humphrey, Conscience and 
lichen Gewissens zur Preßfreiheit mit ihren Law (Lond. 1896); Simar, Gewissen und Ge- 
oft verderblichen Auswüchsen irreligiöser und un= wissensfreiheit (71902); V. Cathrein. Gewissen 
sittlicher Art? An und für sich ist die Druck= und und Gewissensfreiheit (1906). [Pohle.] 
Preßfreiheit für Staat, Kirche und Bürgertum Glaubensfreiheit s. Bekenntnisfreiheit. 
ein so hohes Gut, daß ihre wirklichen oder ver--= Gleichgewicht, politisches. [1. Grund- 
meintlichen Nachteile gegenüber ihren wohltätigen idee des politischen Gleichgewichts. Die ersten 
Wirkungen kaum ernstlich in Betracht kommen. Anfänge desselben bei den Hellenen, Römern, im
	        
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