Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Feudalstaate des Mittelalters. 2. Entstehung eines 
Gleichgewichtssystems; Gleichgewichtsallianzen 
a) gegen die spanisch-habsburgische Weltmacht, 
b) gegen Ludwig XIV., c) gegen die englische 
Seeherrschaft; d) die Heilige Allianz und die 
Pentarchie; e) Versuche eines ethnologischen Gleich- 
gewichts; t) Gleichgewichtsbestrebungen in der 
orientalischen Frage. 3. Die Gleichgewichtsver- 
hältnisse seit dem Berliner Vertrage von 1878. 
4. Die Idee eines Weltgleichgewichts.) 
1. Grundidee des politischen Gleich- 
gewichts. Der Gedanke, welcher dem politischen 
Gleichgewichte unter den Staaten (systeme copar- 
tageant) zugrunde liegt, ist ein einfacher, weil 
natürlicher. Im Naturhaushalte, im bürgerlichen 
Leben, in der Volks= und Staatswirtschaft, überall 
ist ein gewisses Gleich= und Ebenmaß die Vor- 
bedingung einer gedeihlichen Entwicklung. Wie 
alle organischen Gebilde, haben auch die Staaten 
Wachstum und Entwicklungstrieb. Gegen eine 
übermäßige Ausdehnung des Machtbereiches rasch 
anwachsender Staaten regt sich naturgemäß der 
Selbsterhaltungstrieb der dadurch gefährdeten 
kleineren Staatswesen. Sie suchen irgend einen 
Verband und Zusammenschluß untereinander, um 
so eine Gewähr der Sicherung ihrer Interessen 
und der Widerstandsfähigkeit gegen eine drohende 
Übermacht zu erlangen. Von dieser Tatsache eines 
naturgegebenen, geregelten Selbsterhaltungstriebes 
hat die geschichtliche Betrachtung der internatio- 
nalen Gleichgewichtsbestrebungen sowie der ver- 
schiedenen Systeme, welche zur Aufrechthaltung des 
Gleichgewichts ausgedacht wurden, auszugehen. 
Wie von selbst ergab sich aus diesen Bestrebungen 
das Bedürfnis fortdauernder Beziehungen, schär- 
ferer Beobachtung der Verhältnisse und Vorgänge 
im Staatsleben, um durch gegenseitige Unter- 
stützung und festgeknüpfte Bündnisse jeder Gefahr 
gewachsen zu sein. Die Geschichte der Gleich- 
gewichtssysteme ist die Geschichte dieser Bündnisse 
und Allianzen (vgl. d. Art., Bd L, Sp. 175 ff). 
Hat es von alters her Allianzen gegeben, so 
kann auch der Grundgedanke des politischen Gleich- 
gewichts nie ganz unbekannt gewesen sein. Daß 
den Hellenen bei ihrem lebendigen Sinn für Eben- 
maß und edles Maßhalten die politische Gleich- 
gewichtsidee geläufig war, offenbart sich schon 
darin, daß sie sich in der Blütezeit ihrer Gemein- 
wesen wetteifernd zu gemeinsamer Abwehr ver- 
banden, so oft das Machtgelüste eines Gewalt- 
herrschers ihrer Freiheit bedrohlich wurde. Selbst 
in den Zeiten des politischen Verfalles fehlte ihnen 
das Verständnis hierfür nicht, wohl aber die sitt- 
liche Kraft. Auffällig, aber nicht unerklärlich ist 
es, daß solche Gleichgewichtsverbindungen niemals 
gegen die unumschränkte Alleinherrschaft und den 
gewaltigen Druck des Römerreiches zustande komen. 
Die römische Staatskunst hat es eben verstanden, 
die kleinen Nachbarstaaten an sich zu ziehen, die- 
selben in ein Bündnis zu verstricken und sie dann 
insgesamt, bevor sie noch Zeit fanden, sich unter- 
Gleichgewicht, politisches. 
  
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einander gegen die ihnen gemeinsam drohende 
Gefahr der Unterjochung zu sichern, botmäßig zu 
machen. Zu Beginn des Mittelalters trat die 
äußere Gleichgewichtspolitik nur wenig hervor. 
Das Feudalwesen, die Begierde der kleinen Ter- 
ritorialherren nach Selbständigkeit und Unab- 
hängigkeit machten die unablässige Sorge für die 
Aufrechterhaltung der inneren Machtverhältnisse 
zum politischen Hauptgeschäft, während gegen ge- 
waltsame Verschiebungen des auswärtigen Gleich- 
gewichts geraume Zeit das schiedsrichterliche Amt 
der römischen Päpste ein durch Weisheit und Ge- 
rechtigkeit gefestigtes Bollwerk bildete. Das war 
die Theorie von den beiden Schwertern, dem geist- 
lichen und dem weltlichen, welche in der berühmten 
Bulle Unam sanctam Papst Bonifaz' VIII. ver- 
lautbart, für die Kirchengewalt die spirituelle 
Souveränität über die weltliche in Anspruch nahm 
und u. a. praktisch zur Anwendung gelangte auf 
Grund des Dekretale Venerabilem im Thron- 
streit zwischen Philipp von Schwaben und OttoIV., 
dann des Dekretale Novit im Konflikt zwischen 
Philipp August von Frankreich und Johann von 
England. Noch im Jahre 1493 hat Papst Alex- 
ander VI. (Bulle Inter cetera divinae) über 
die Grenzlinie zwischen den spanischen und portu- 
giesischen Entdeckungen entschieden. 
2. Entstehung eines Gleichgewichts- 
systems. Die Kunst einer Gleichgewichtspolitik 
im technischen Sinne wurde zuerst im 15. Jahrh. 
in dem italienischen Staatensystem ausgebildet und 
hat ähnlich wie die erneute Pflege der Wissen- 
schaften und Künste des Altertums von Italien 
aus in die übrigen Staaten Europas Eingang ge- 
funden. Daß diese Politik in der Folge in jene 
moralwidrige Trugkunst ausartete, welche als 
„Machiavellismus“ auf eine Anpreisung des rück- 
sichtslosen Eigennutzes und einen diplomatischen 
Vertilgungskrieg hinauslief, ist nicht zu verkennen. 
a) Diese neue Politik kehrte sich zunächst mit 
großem Nachdruck gegen die spanisch-österreichische 
Macht des Hauses Habsburg. Der Kampf 
gegen diese Weltmonarchie wurde von Frankreich 
unter Franz I. und Heinrich IV., von England 
unter Elisabeth und von Schweden unter Gustav 
Adolf geführt. Als Versuch, ein — übrigens auf 
die Hegemonie Frankreichs hinauslaufendes — 
immerwährendes Gleichgewicht zu bewerkstelligen, 
kann das Heinrich IV. zugeschriebene, aus den 
Memoiren von Sully bekannte Projekt eines um- 
fassenden europäischen Staatenbundes gelten. Die 
ganze abendländische Christenheit, als zusammen- 
gehörige Völkergemeinschaft im Gegensatz zu dem 
Moskowiterreich und dem Osmanentum betrachtet, 
sollte 15 Reiche von ungefähr gleicher Macht, 
aber mit verschiedenen Staatsformen umfassen 
(6 Erbkönigreiche, 5 Wahlkönigreiche, 4 Repu- 
bliken), an die Stelle des Prinzipatsystems des 
Mittelalters, welches in Papsttum und Kaisertum 
gipfelte, die demokratische Föderation treten, und 
zwar mit einem ständigen Senate und einem
	        
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