Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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den selbstverständlichen Konsequenzen des sozia- 
listischen Staates; im natürlichen Rechte aber ist 
sie ganz ebensowenig begründet wie die Forderung 
gleichen Besitzes an Sachgütern. Auch aus poli- 
tischen Erwägungen kann sie schwerlich befür- 
wortet werden. Der Staat hat seine Einrich- 
tungen nicht zu treffen unter Bezugnahme auf 
eine Gleichheit, welche in Wirklichkeit nicht vor- 
handen ist, sondern mit Berücksichtigung der ver- 
schiedenartigen Bedürfnisse, wie sie tatsächlich 
bestehen. Der Besuch der Dorsschule reicht für 
den nicht aus, der sich einem gelehrten Berufe 
oder dem höheren Staatsdienste widmen will; 
umgekehrt aber würde die Ausbildung, die hierfür 
unerläßlich ist, dem Landmanne und Gewerbetrei- 
benden nicht nur nichts nützen, sondern ihm den 
Geschmack an seiner eigenen Berufstätigkeit rauben. 
Aber ist es nicht wenigstens ein nützliches Be- 
ginnen, denen, deren Beruf die produktive Arbeit 
ist, in ihren freien Stunden Gelegenheit und An- 
leitung zum Erwerb einer höheren Bildung zu ver- 
schaffen? Man kann dies im allgemeinen bejahen, 
ohne doch den Wert eines solchen Beginnens zu 
überschätzen, oder gar, wie auch wohl geschehen, 
von einer umfassenden Durchführung die Über- 
windung der sozialen Gegensätze zu erhoffen. Ge- 
wiß ist, daß eine Verkürzung der Arbeitszeit, wie 
sie gegenwärtig eine der hauptsächlichsten Forde- 
rungen der Industriearbeiter bildet, denselben nur 
unter der Voraussetzung zum Segen ausschlagen 
wird, daß sie ihren freien Stunden einen wirklich 
wertvollen Inhalt zu geben wissen, und daß dies 
durch eine gesteigerte Bildung gefördert werde, ist 
nicht in Abrede zu stellen. Aber diesem unzweifel- 
haften Nutzen stehen doch auch ebenso unzweifel- 
hafte Bedenken gegenüber. Tieferes Eindringen 
in ein oder das andere Wissensgebiet, selbständige 
Handhabung der wissenschaftlichen Methode und 
damit die Fähigkeit, zwischen Wahrem und Irri- 
gem, begründeten Lehren und Tatsachen und bloßen 
Hypothesen zu unterscheiden, wird im besten Falle 
nur die Sache einzelner sein; Halbbildung aber, 
welche den da oder dort gebotenen Stoff äußerlich 
aufnimmt, ohne über den Wert oder Unwert des 
Gebotenen urteilen zu können, weckt nur den Hoch- 
mut und nährt die Unzufriedenheit. Einen wirk- 
lichen Erfolg werden jene Bildungsbestrebungen 
nur haben, wenn sie die Gestalt eines systematischen, 
dem Berufsleben des Arbeiters angepaßten und 
seine besondern Interessen fördernden Unterrichts 
annehmen, der nicht redegewandte Agitatoren aus- 
zubilden, sondern strebsame Männer in den Stand 
zu setzen hat, mit Hilfe der erworbenen Kenntnisse 
zu einer verbesserten Lebensstellung zu gelangen. 
Was darüber hinausliegt, kann nur dann und 
nur insoweit einen Wert beanspruchen, wenn und 
inwieweit es der moralischen Bildung, der Ver- 
edlung des Charakters und der gesamten Sinnes- 
weise dient. 
5. Schluß. Ein nivellierendes Beseitigen aller 
Unterschiede kann somit nirgendwo das Ziel einer 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Glücks= oder Hazardspiele. 
  
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vernünftigen Staatsleitung sein, ebensowenig wie 
es seine Begründung in dem aus der Beschaffen- 
heit des Menschenwesens fließenden natürlichen 
Rechte finden könnte. Die menschliche Gesellschaft 
wird stets aus ungleichartigen Elementen 
zusammengesetzt bleiben. Auf dieser Ungleichheit 
beruht allein Leben und Veränderung; aus ihr 
stammt die Regsamkeit der einzelnen Glieder. Ein 
Staat zwangsweise durchgeführter Gleichheit würde 
einen Zustand der Stumpfheit und Geistesleere 
nach sich ziehen. Es gäbe kein Ziel mehr, das der 
einzelne sich setzen könnte.,, daher keine private 
Initiative, keinen Trieb zu Fortschritt und Ver- 
besserung. Alle Fortschritte im wirtschaftlichen wie 
im geistigen Leben der Menschheit werden getragen 
von dem freien Wettbewerb der einzelnen Glieder, 
welcher in dem Augenblick aufhören müßte, wo#“ 
der einzelne nichts mehr zu fürchten, aber auch 
nichts zu hoffen hätte. Daß in diesem Wett- 
bewerbe die Bedingungen ungleich verteilt sind, 
daß in ihm nicht alle zum Ziele kommen, viele be- 
siegt zurückbleiben, ist nur allzu wahr; aber keine 
Staatskunst der Welt vermag bei der tatsächlichen 
Einrichtung des Menschengeschlechts dieses übel 
zu beseitigen. Auch für die Besiegten aber wäre 
nur dann das Los ein verzweiflungsvolles, wenn 
die materialistische Lehre im Recht und mit dem 
Tode des Leibes alles zu Ende wäre. Es verliert 
diesen Charakter, es verliert vieles von seiner 
Schwere, wenn die Zuversicht besteht, daß die Ge- 
schicke der Menschen göttlicher Leitung unterstehen 
und auf das irdische Leben ein anderes folgen 
wird, in welchem die volle und endgültige Befrie- 
digung des Glückseligkeitsstrebens nicht durch zu- 
fällige Umstände, sondern durch eine ausgleichende 
Gerechtigkeit bedingt sein wird. Man begreift 
aber auch, daß die revolutionäre Partei, welche 
die absolute Gleichheit im sozialistischen Zukunfts- 
staate zu verwirklichen verheißt, ihrer gesamten 
Tendenz nach eine irreligiöse Partei sein muß. 
Denn erst wenn der Glaube an Vorsehung und 
Jenseits aus den Herzen entfernt wird, wenn 
irdischer Besitz und Genuß als das letzte und höchste 
Ziel gilt, gelingt es, den Neid und die Begierde 
der Besitzlosen so zu steigern, daß sie sich als un- 
heilvolle Kräfte der Zerstörung in den Dienst der 
Revolution stellen. lv. Hertling.) 
Glücks= ober Hazardspiele. Griechi- 
schen bzw. orientalischen Ursprungs, war das 
Glücksspiel in Rom allmählich in das verderb- 
lichste Hazardspiel ausgeartet, das sittlich und 
wirtschaftlich in allen Kreisen der Bevölkerung 
viele Opfer verschlang; die Gesetzgebung mußte 
gegen die verheerende Seuche einschreiten; sie ver- 
bot alles Spielen um Geld, mit einziger Aus- 
nahme der Spiele, welche körperliche Ubung be- 
zweckten, und der Ausspielung von unmittelbar 
zum Genuß bestimmten Gegenständen; zugleich 
wurden die am verbotenen Spiele Beteiligten 
strafrechtlich verfolgt. Nach Justinian gewährt 
der Spielgewinn keine Klage; der Verlust kann 
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