Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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ergibt sich diese Voraussetzung schon aus der Be- 
schaffenheit der Kriegseroberung als Gattung der 
gewöhnlichen Okkupation. Cocceji sagt in seinem 
Grotius illustratus III 138 sehr bezeichnend: 
Vox ipsa „capta“ indicat rem ita in nostra 
custodia et potestate esse, ut eximi non 
possit. Er beruft sich diesfalls zutreffend auf 
dasjenige, was Grotius über die eigentümliche 
Natur des Erwerbs durch Kriegseroberung äußert: 
Non causa aliqua, sed ipsum nudum factum 
spectatur et ex eo ius nascitur. Bezeichnend 
ist auch, daß weiterhin der naturalis occupatio 
die invasio, nämlich die tatsächliche Besetzung 
feindlichen Gebiets, gleichgestellt ist, und dies führt 
zur Betrachtung der Kriegseroberung in Bezug 
auf Staatsgebiet. 
3. Die Kriegseroberung von Staats- 
gebiet. Das Faktum der wirklichen Besitzergrei- 
fung, welches der vollständigen Verdrängung des 
bekriegten Gegners nachfolgt, ist das Mittel, wo- 
durch auch an unbeweglichen Sachen Eigentum 
erzeugt und erworben wird. Aber nicht bloß das 
einzelne liegende Gut, auch der Staat selbst kann 
als Gegenstand der Kriegseroberung und des Er- 
werbs durch Kriegseroberung nicht anders gedacht 
werden als in Beziehung auf das Territorium, 
welches von der Streitmacht des siegenden Teils 
wirklich besetzt und beherrscht ist. Auch bezüglich 
des Meeres und der Kriegsmaßregeln zur See galt 
von alters her ganz derselbe Grundsatz der Effek- 
tivität (s. d. Art. Blockade). Sowohl nach der all- 
gemeinen Regel der Okkupation: Tantum oceu- 
pPatum, qduantum apprehensum, wie auch nach 
ihrer besondern Anwendung auf Kriegsrecht und 
Kriegsgebrauch: Exercitus, cum magna vil in- 
gressus, eam tantummodo partem, qduam in- 
traverit, obtinet (1. 18, 84 D. de add. vel am. 
poss. 41, 2), ist nur der Grund und Boden, auf 
welchem der Staat existiert, okkupationsfähig, nicht 
der Staat selbst oder die oberste Staatsgewalt. 
Auch wenn sämtliche Bewohner in die Gefangen- 
schaft des Feindes geraten und als Gegenstand 
seiner Eroberung behandelt würden, so kämen sie 
doch nur als Einzelpersonen und nicht als die den 
Staat bildende Gesamtpersönlichkeit in Betracht. 
Der Staatsverband als ein Rechtsverhältnis unter 
Personen ist keiner solchen Okkupation fähig, ja 
der Staat wäre selbst durch Gefangennehmung 
und Fortschaffung aller seiner Untertanen noch 
keineswegs okkupiert. 
Hieraus ergibt sich die fundamentale Regel, 
daß sich die Bemächtigung der obersten Staats- 
gewalt von seiten des Siegers rechtlich unter 
keinen andern Gesichtspunkt bringen läßt als 
jenen der militärischen Verwaltung. Soll die 
Staatsgewalt in Wirklichkeit erworben, soll der 
Staat selbst dem Sieger zu eigen werden, so er- 
fordert dies notwendig einen ganz andern Rechts- 
titel, einen solchen des abgeleiteten Eigentums- 
erwerbs, eine Erwerbsart, die in ihrem wesentlichen 
Bestand unmittelbar auf den Willen des bisherigen 
Eroberung. 
  
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Eigentümers, von welchem das Eigentum auf uns 
übergehen soll, zurückzuführen ist. Ob derselbe da- 
bei mehr der Notwendigkeit gehorcht als dem 
eigenen Trieb, ist nicht entscheidend. Aber ein 
Rechtsgrund, aliqua justa causa, propter duam 
„traditio“ sequeretur (I. 31 pr. D. de adq. 
rer. dom. 41, 1), muß immer noch vorhanden 
sein, wenn der Sieger, der sich vermöge der Okku- 
pation in den Besitz der Gebietshoheit gesetzt hat, 
auch in jenen der Staatshoheit gelangen, wenn 
die Verwaltung wirkliche Regierung werden soll. 
Fehlt es an einem solchen, weil es vielleicht nicht 
gelingt, den Besiegten zur Abtretung des eroberten 
Gebiets zu bewegen, oder weil derselbe nicht in 
unzweideutiger Weise kundgegeben hat, daß er alle 
Hoffnung auf Wiedererlangung seines früheren 
Besitzes verloren habe (was von der Völkerrechts- 
doktrin in bemerkenswerter Ubereinstimmung einem 
Verzicht gleichgehalten wird), so ist der Zustand, 
wenn auch kein usurpatorischer (s. d. Art. Usur- 
pation), so doch jedenfalls ein provisorischer. — 
Der Gebietsherr im völkerrechtlichen Sinn ist nicht 
Landesherr im staatsrechtlichen. Letzteres wird er 
erst durch die Rechtsnachfolge. Als Sukzessor des 
besiegten Trägers der Staatsgewalt kann der Er- 
oberer nunmehr auch den Staat oder den eroberten 
Gebietsteil desselben als den seinigen betrachten. 
Dieser Staat oder Teil gehört nunmehr ihm an 
in seiner ganzen Substanz, mit allem seinem Ver- 
mögen, mit allen seinen obligatorischen Verhält- 
nissen, seinen administrativen Hoheitsrechten usw. 
Auch die unkörperlichen Sachen, an denen ein un- 
mittelbarer Erwerb durch Okkupation nicht denk- 
bar ist, werden nunmehr sein Eigentum. Er kann, 
wie der vorige Inhaber, über dieselben verfügen, 
Kapitalien einziehen, an dritte Personen abtreten 
usw. allein alles das nicht vermöge des Faktums 
der Okkupation, sondern vermöge der infolge der 
Oblupation durch Sukzession erworbenen Staats- 
gewalt. 
Dieser Unterschied zwischen der bloßen Er- 
oberung von Staatsgebiet und der ihr nachfol- 
genden Übergabe oder doch Überlassung desselben 
ist so sehr in der Natur und dem Wesen des Rechts 
begründet, daß man sich zu Versuchen bemüßigt 
sah, für die mangelnde Übergabe juristische Sur- 
rogate in das Völkerrecht einzuführen. Zu die- 
sen gehören das Plebiszit, das italienische Ga- 
rantiegesetz vom 13. Mai 1871 und in gewissem 
Sinn auch das Mandat der die internationale 
Gesamtlagebestimmenden Mächte. Das Plebiszit 
beruht auf einem doppelten Irrtum: einem alten, 
wonach der jeweilige Volkswille oder der nume- 
rische Ausdruck desselben der wirkliche Staatswille 
sein soll; und auf einem neuen, welcher vorgibt, 
daß die Nation ein höherer Rechtsorganismus sei 
als der Staat, und daß der nationale Staat die 
Pflicht habe, über seine Grenzen hinauszugreifen, 
um Eroberungen im ethnographischen Sinn zu 
machen (s. d. Art. Plebiszit). Das italienische 
Garantiegeset ist ein einseitiges, dem Hei- 
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