Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Als Jüngling von wenig mehr als 20 Jahren 
trat Görres voll Begeisterung in die Freiheits- 
bewegung ein, glänzte als Redner in den vater- 
städtischen Klubs, schrieb (als Erstlingsschrift) 1796 
„Der allgemeine Friede, ein Ideal“, und gründete 
1798 „Das rote Blatt, eine Dekadenschrift", 
welches freimütig die öffentlichen Angelegenheiten 
besprach und die Mißgriffe der Freunde ebenso 
tadelte wie die Übergriffe der Gegner. „Unab- 
lässiger Krieg wider die Schlechtigkeiten aller Art, 
die Hand dem tugendhaften Mann“ war die Pa- 
role, die ihm bald die allgemeine Achtung erwarb 
und seinen Worten Geltung verschaffte. Sein 
Kampf gegen die Ausschreitungen der Behörden 
führte bald zur Unterdrückung des „Roten Blattes“ 
durch die Landesdirektion; es lebte aber schnell als 
„Rübezahl“ in blauem Gewand mit gleicher Ten- 
denz wieder auf (1798/99). Von seinen Mit- 
bürgern wurde Görres nebst drei gleichgesinnten 
Freunden nach Mainz gesandt, um gegen die Will- 
kür des kommandierenden Generals Leval Be- 
schwerde zu führen, was ihm eine zwanzigtägige 
Haft zuzog. Im Alter von erst 23 Jahren begab 
er sich, durch das öffentliche Vertrauen berufen, 
im Nov. 1799 an der Spitze einer Deputa- 
tion nach Paris, um nach dem Sturz des Direk- 
toriums das Aufhören der bisherigen drückenden 
Okkupation und an deren Stelle eine gänzliche 
Vereinigung und Gleichstellung des linken Rhein- 
ufers mit Frankreich zu erzielen. Seine persönliche 
Begegnung mit dem ersten Konsul ließ ihn die 
prophetischen Worte an seine Mitbürger schreiben: 
„Nehmt auch in Bälde den Suetonius zur Hand, 
denn der neue Augustus ist fertig.“ 
Die in Paris erhaltenen Eindrücke bekehrten den 
jungen Idealisten vom Republikanismus. In einer 
Schrift „Resultate meiner Sendung nach Paris“ 
(1800) erklärte er offen, nicht mehr für eine repu- 
blikanische Verfassung zu schwärmen, und daß „der 
Zweck der Revolution gänzlich verfehlt“ sei. Zwei 
Jahrzehnte später hat er selbst (Polit. Schriften 
IV601) über diese Periode seines Lebens also ge- 
urteilt: „Meine Jugend hat manche Irrtümer der 
Zeit geteilt; der stärkste, der mich noch nicht ganzver- 
lassen, war immer der, daß ich meinen Zeitgenossen 
mehr zugetraut, als sie zu leisten imstande waren. 
Wenn ich mich in dieser Weise bisweilen betrogen, 
so habe ich wenigstens das Glück gehabt, durch 
keine schlechte Handlung mein Leben zu beflecken.“ 
Von dem politischen Treiben abgestoßen, zog sich 
Görres vorübergehend vom öffentlichen Leben zu- 
rück und wirkte als Lehrer der Naturgeschichte und 
Physik an der Sekundärschule zu Koblenz. 1801 
vermählte er sich mit Katharina v. Lasaulx. In 
diese Zeit fallen seine Schriften „Aphorismen über 
die Kunst“ (1802), „Aphorismen über Orga- 
nonomie“ (1803), „Exposition der Physiologie“ 
(1805), „Aphorismen über Organologie“ (I, 
1805) sowie sein Buch „Glaube und Wissen“ 
(1806), das zwar noch vielfach in der verschwom- 
menen pantheistischen Richtung der Schellingschen 
Görres. 
  
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Naturphilosophie sich bewegte, aber doch schon 
seine Rückkehr zum Glauben der Kirche abnen läßt, 
deren gewaltigster Vorkämpfer er werden sollte. 
Thibauts Vorschlag ermöglichte ihm 1806 die 
Ülbersiedlung als Professor an die Universität 
Heidelberg für anthropologische und physio- 
logische Vorlesungen. Hier wurde er mit Achim 
v. Arnim u. Klemens Brentano Mitbegründer 
der Romantik in der Poesie und der Germanistik 
in der Wissenschaft. Sein Ziel war, durch Zu- 
rückgehen auf die deutsche Vergangenheit bei der 
Trübsal der damaligen Gegenwart „das deutsche 
Volk wieder zu sich selbst zu bringen“. Görres 
förderte die Unternehmungen seiner Freunde 
(„Des Knaben Wunderhorn“ „Einsiedlerzeitung“, 
„Trösteinsamkeit") durch Rat, Tat und Mitarbeit 
und veröffentlichte selbst „Die deutschen Volks- 
bücher“ (1807), um zu zeigen, „daß fernab von 
dem Kreis höherer Literatur, unscheinbar und 
wenig gekannt, die Volksliteratur bestanden habe; 
daß diese Volksbücher . . ein unver üstlich 
Leben leben; daß sie, nie veraltend, stcts will- 
kommen, immer gleich belustigend und erquicklich 
und belehrend geblieben; daß diese Volksbücher 
eigentlich den stammhaftesten Teil der Literatur 
bilden“. 
Die nicht befriedigende Neuordnung der politi- 
schen Dinge in Baden, durch welche der Bischof wie 
der Professor dem Polizeiminister unterstellt wur- 
den, verleidete ihm den Aufenthalt in Heidelberg. 
Im Herbst 1808 kehrte er in die ihm vorbehaltene 
frühere Stellung als Lehrer an der Sekundärschule 
zu Koblenz zurück. Als solcher führte er in 
wissenschaftlichen Studien ein Stillleben bis zur 
Erhebung Deutschlands gegen Napoleon 1814. 
Neben dem Mittelhochdeutschen trieb er auch eifrig 
das Studium fremder Sprachen und erlernte selbst 
das Persische. Es erschien seine „Mhythengeschichte 
der asiatischen Welt“ (1810), welche eine tiefere 
Auffassung der Völkersagen angebahnt und der 
Religionsphilosophie ein ganz neues Gepräge ge- 
geben hat. In den Vorreden zu seinen Werken 
und in einzelnen Aufsätzen behielt Görres aber 
die politische Lage wohl im Auge („Reflexionen 
über den Fall Deutschlands und die Bedingungen 
seiner Wiedergeburt“, 1810 im „Vaterländischen 
Museum“, Hamburg, unter dem Pseudonym 
„Orion“). 
Als die Heere der Verbündeten im Jan. 1814 
am Rhein erschienen, gab Görres am 23. dessel- 
ben Monats die erste Nummer seines „Rheini- 
schen Merkur“ heraus, von welchem bis zur 
Unterdrückung im Anfang des Jahres 1816 
durch die preußische Regierung 357 Nummern 
sich folgten. Durch dieses Blatt wollte Görres 
„die rheinische Zunge, welche seit 20 Jahren in 
der Genossenschaft deutscher Völkerschaften beinahe 
ganz verstummt, „im großen deutschen Orden“ 
wiederherstellen und ihr wieder Sitz und Stimme 
verschaffen im Rate der Brüder“. Der „Merkur“, 
in welchem Görres „redete wie einer, der Gewalt 
 
	        
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