Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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hat, und nicht wie unsere Schriftgelehrten und 
Pharisäer“, wurde ein Nationalorgan, wie Deutsch- 
land weder vorher noch nachher je ein solches be- 
sessen hat. Napoleon selbst nannte den gewaltigen 
Publizisten la cinquième puissanee, die fünfte 
der gegen ihn verbündeten Mächte. Görres' Haus 
war ein Mittelpunkt für die nationale Bewegung, 
wo die Führer von Schwert und Feder ein und 
aus gingen; Stein, Gneisenau, Blücher, Scharn- 
horst unterhieltenenge Beziehungen zudem Heraus- 
geber des „Rheinischen Merkur“. Von dem Gou- 
verneur der provisorischen Regierung der Ver- 
bündeten in den ehedem französischen Rheingebieten 
wurde Görres zum Direktor des öffentlichen Unter- 
richts ernannt. 
Die Kabinettspolitik der Mächte, welche den 
Deutschen Bund schuf, aber das Verlangen des 
deutschen Volkes nach Wiederherstellung des deut- 
schen Kaisertums und ständischer Verfassungen 
unerfüllt ließ, sowie das Auftreten des Beamten- 
tums in den an Preußen übergegangenen Rhein- 
landen war der Ausgangspunkt des größten Kon- 
flikts in Görres' Leben. Sein „Merkur“ wurde 
1816 auf Verlangen Rußlands, im letzten Grund 
wegen der Befürwortung der Wiederherstellung 
des Kaisertums unter dem Haus Osterreich, unter- 
drückt. Im gleichen Jahr wurde ihm die Tätig- 
keit als Direktor des öffentlichen Unterrichts durch 
die neue Organisation entzogen, er selbst auf 
Wartegeld gesetzt. Görres veröffentlichte alsbald 
die Schrift „Deutschlands künftige Verfassung“ 
(1816) und wandte sich wieder dem wissenschaft- 
lichen Studium zu („Altdeutsche Volks= und 
Meisterlieder aus den Handschriften der Heidel- 
berger Bibliothek“, 1817). 
Die Hungersnot des Jahres 1817 rief ihn an 
die Spitze des Hilfsvereins in den Rheinlanden. 
Minister v. Hardenberg u. der preußische Kron- 
prinz Friedrich Wilhelm (später als König Fried- 
rich Wilhelm IV.) sahen Görres bei ihren Be- 
suchen 1818 in den Rheinlanden an der Spitze 
der Bewegung u. der Deputation für Einführung 
der ständischen Verfassung („Adresse der Stadt 
Koblenz“, 1818). In dieser Kundgebung finden 
sich die von rheinischem Selbstgefühl diktierten 
Sätze: „Es lebt eine dunkle Erinnerung im Geist 
des rheinischen Volkes fort von dem, was der Rhein 
in der deutschen Geschichte bedeutet: wie in den 
Zeiten vor der Geschichte die Trevirer aus der 
Mitte Belgiens bis an die Schweiz geherrscht; 
wie von Austrasien her das alte Gallien be- 
zwungen worden; wie Rheinfranken in den Karo- 
lingern der Welt ihre Herren und Deutschland 
ein großes Kaisergeschlecht gegeben; wie die rhei- 
nischen Kurfürsten Deutschland stark gemacht, in- 
dem sie durch kluge Wahl ihm jahrhundertelang 
eine Reihe der trefflichsten Kaiser ausgefunden; 
wie am Rhein alle Künste gediehen und das 
Haupt, die geistige Höhe und Blüte des Reichs 
sich entwickelt hatte, als in den Extremitäten 
Avaren und Hungarn nach Osterreich überzogen, 
Görres. 
  
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und Wenden und Slawen bis zur Elbe in Preußen 
errschten; wie in allen Jahrhunderten große 
Fürsten und Kirchenprälaten, Staatsmänner und 
Feldherren, Schriftsteller, Dichter, Baumeister, 
Maler und Künstler jeder Art von dort ausge- 
gangen; und wenn in den letzten Zeiten ein Still- 
stand darin eingetreten, es darum geschehen, weil 
das Ganze und die Herrlichkeit des Reichs, worauf 
allein diese Bildung sich angewiesen gefunden, in 
sich erstorben und zerfallen war.“ 
Um den unbequemen Volksmann vom Rhein 
abzuziehen, bot man ihm eine Professur an der 
Universität Berlin an, d#e er ablehnte mit dem 
Hinweis: wenn er dort zu einem Lehramt tauge, 
müsse er auch in seiner Heimat (Bonn) dazu tau- 
gen. Die nach Kotzebues Ermordung (1819) ver- 
öffentlichte politische Schrift „Deutschland und die 
Revolution“, in welcher er in glühender Sprache 
den unbefriedigenden Zustand des Vaterlandes 
schilderte, erregte ungeheures Aufsehen. „In Berlin 
wird's diesmal sehr donnern“, hatte Görres selbst 
von ihr gesagt. Es erging die Kabinettsorder 
Friedrich Wilhelms III., ihn zu verhaften und auf 
die Festung Spandau zu bringen. Allein er war 
bereits zu Frankfurt in Sicherheit, als die Fest- 
nahme erfolgen sollte, und ging, als man ihn auch 
hierhin verfolgte, am 10.Okt. 1819 nach Straßburg. 
Wolfgang Menzel schrieb über die gegen Görres 
gerichtete Verfolgung einige Jahrzehnte später: 
„Es wäre besser gewesen, Görres hätte Preußen 
nie verlassen dürfen, und nach 30 Jahren darf 
man auch wohl sagen, es sei nicht absolut not- 
wendig gewesen. Das, was man damals ihm so 
übel nahm, es erscheint heute gerechtfertigt. Er 
verlangte die versprochene Verfassung, und Preußen 
hat sie jetzt. Er verlangte Bürgschaft für die Kirche, 
und die Kirche hat sie jetzt. Er bedauerte tief, daß 
in den beiden Pariser Frieden Deutschlands West- 
grenze nicht besser gesichert wurde, und wer be- 
dauert heute nicht dasselbe? Hätten alle deutschen 
Fürsten damals gewollt, was Görres wollte, wahr- 
haftig, ihre eigene Sache wie die ganz Deutsch- 
lands stände sicherer. Straßburg und Metz wären 
äußere Bundesfestungen und nicht die Operations= 
basis der Franzosen. Die Wöünsche, die Görres 
ausgesprochen, erscheinen heute alle als erlaubt 
und gerecht. Die Ratschläge, die er dem Vater- 
land erteilt, erscheinen heute alle als natürlich, 
bündig, vernünftig und weise.“ 
Von Straßburg aus, einen nicht ganzjäh- 
rigen Aufenthalt in der Schweiz (Aarau) abge- 
rechnet, setzte Görres zunächst noch seine sagenfor- 
schende und politische Schriftstellertätigkeit fort 
(„Das Heldenbuchvon Iran“, 1820; „Europaund 
die Revolution“, 1821). Die letztere tiefgreifende 
Schrift zerfällt in vier Abschnitte: Orientie= 
rung, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Zwei 
Sätze mögen ihren Geist charakterisieren: „Seit 
Schwertes Gewalt die alte christliche Theokra- 
tie zerstört, ist ein Soldatenreich an die Stelle 
des Priesterreichs getreten. Europa ist ein Feld- 
So-ns.— 
 
	        
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