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sein.“ Ebenfalls in „Kirche und Staat“ richtet
er an Katholiken und Protestanten die Mahnung:
„Wir alle, Katholische und Protestantische, haben
in unsern Vätern gesündigt und weben fort an
der Webe menschlicher Irrsal, so oder anders;
teiner hat das Recht, sich in Hoffart über den
andern hinauszusetzen, und Golt duldet es von
keinem, am wenigsten bei denen, die sich seine
Freunde nennen.“
So schwierig eine Würdigung des Auftretens
sowie der publizistischen und wissenschaftlichen Lei-
stungen Joseph v. Görres' im einzelnen ist, so klar
und scharf hebt sich seine Gesamtpersönlichkeit
und sein Gesamtwirken aus dem Rahmen seiner
Zeit heraus. Wenn einer, so muß Görres alles in
allem genommen worden. Jeder deutsche Mann
sollte anerkennen, daß Görres, trotz vorübergehender
Irrungen, einer der bedeutendsten deutschen Pa-
trioten war, und jeder freiheitlich gesinnte deutsche
Mann, daß Görres zu den charaktervollsten und
unerschrockensten Verfechtern idealer Freiheit gegen
Absolutismus und Bureaukratismus gehörte. Einen
„Herold der Völkerfreiheit und des deutschen Pa-
triotismus“ nennt ihn Heinrich in seiner oben
zitierten Gedächtnisrede. Unter den deutschen Ka-
tholiken darf er wegen seiner erfolgreichen Ab-
wehr staatskirchlicher Vergewaltigungsversuche auf
den Ehrennamen des rheinischen O'Connell An-
spruch erheben.
Bei der Ende Mai 1901 in Koblenz begangenen
Feier des 25jährigen Bestehens der Görres-Gesell-
schaft hat der stellvertretende Vorsitzende der Gesell-
schaft, Prof. Grauert (München), in den folgenden
Ausführungen die Frage: Was ist uns Görres?
beantwortet: „Wir sind bisher nicht darauf aus-
gegangen und wollen es auch in Zukunft nicht
tun, die Männer und insbesondere die Gelehrten,
welche unserer Gesellschaft sich anschließen, zur
Nachabmung Görresscher Eigenart anzuhalten.
Kraftgenialische Naturen, wie Joseph Görres eine
solche gewesen ist, lassen sich nicht durch Studium
heranbilden, sie werden geboren und entwickeln sich
selbständig. Sie sind Geschenke, welche Gott der
Menschheit von Zeit zu Zeit sendet, um die Völker
aufzurütteln und die Welt der Geister in neue,
nachhaltende Schwingungen zu versetzen. Auch
der Wissenschaftsbetrieb, wie er Görres eigen ge-
wesen ist, trägt durchaus selbständiges Gepräge.
Ihn gleichsam mechanisch zu vervielfältigen und
sklavisch nachzuahmen, würde ein vergebliches Unter-
fangen sein. Die Universalität des Geistes, wie
wir sie an Görres gewahren, die in der Jugend
noch dazu systematischer, methodischer Schulung
entbehren mußte, kann nur an Säkularmenschen
hervortreten und fruchtbar werden. Und auch solche
gottbegnadete Naturen haben der menschlichen
Schwäche ihren oftmals reich bemessenen Tribut
zu entrichten; auch sie fallen, wie das unserem
Görres nicht erspart worden ist, dem Irrtum an-
heim. Sie treten unserem Herzen dadurch in ge-
wissem Sinn menschlich näher. Bei Görres er-
Görres.
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klärt sich vieles aus der unabweisbaren Reaktion
gegen den verflachenden Geistesmechanismus des
Rationalismus, wie sie im Sturmeswehen der
Romantik mit elementarer Gewalt hervorbrach.
Auf dem Gebiet der Geschichte ist die strenge,
methodische Kritik der Quellen, wie sie seit Bar-
thold Georg Niebuhrs berühmtem Vorgang in
den Forschungen zur römischen Geschichte all-
gemein zur Anerkennung gelangte, niemals eine
starke Seite von Görres gewesen. Uberhaupt war
er kein Historiker, der an den äußeren Ereignissen
haften blieb. Dafür suchte er mit intuitivem Blick,
mit dem Auge des Sehers, einzudringen in den
Geist und die bewegenden Ideen der Weltgeschichte.
Als Knabe, als Jüngling und als Mann hat er
gelernt, in dem Buche zu lesen, das am Rhein-
strom vornehmlich dem denkenden Forscher sich
öffnet. Die Uferlande des Rheins und der Mosel
mit ihren verfallenen, von der Romantik umrankten
Burgen, mit ihren aufrechtstehenden, in altem
Glanz durch die Jahrhunderte erhaltenen oder
in unsern Tagen erneuerten und vollendeten Denk-
mälern, mit ihren Sagen und der Fülle ihrer
historischen und poetischen Überlieferungen, mit
der reich begabten Eigenart ihrer Bewohner möchte
ich dem Auge des deutschen Volkes vergleichen,
das in seelenvoller Tiefe sich öffnet. Der ver-
ständnisvolle Wanderer liest aus dem geheimnis-
vollen Leuchten dieses weit geöffneten Auges einen
nicht geringen Teil des großen, wechselvollen,
schicksalsreichen Inhalts unserer Volksgeschichte.
Görres hat ihn sich frühzeitig zu eigen gemacht.
Hier am Rhein und im Reckartal lernte er sich
versenken in die Seele des deutschen Volkes, die
er aus ihrer Geschichte, aber vornehmlich auch aus
ihren Dichtungen, Sagen und Traditionen begriff;
er suchte aber in gleicher Weise auch dem Geist
und der Seele der romanischen wie der asiatischen
Völker und insbesondere der Völker Irans näher-
zutreten. Die Übersetzung, und man kann es so
nennen, die Nachdichtung des Schahname, des Hel-
denbuchs von Iran, ist für sich allein ein Helden-
stück wissenschaftlicher Arbeit. Aus diesen Studien
und in der fortschreitenden Entwicklung seiner
Eigenart entnahm Görres dann die Kraft, der
Wortführer seines Volkes zu werden, der für die
Freiheit der Nation nach außen wie nach innen
und für die Freiheit des religiösen Bekenntnisses
in einer früher nie gehörten, die Seele der Völker
mächtig ergreifenden, oftmals überquellenden und
überschwellenden Sprache die Vollkraft seines
Riesengeistes einsetzte. Alles in allem genommen
ist Joseph v. Görres den deutschen Katholiken die
Verkörperung des Willens zum Leben
und zur Tat. Wir wollen leben und schaffen
für die Größe unseres deutschen Vaterlandes, für
dessen Befreiung Görres im „Rheinischen Merkur“
seine letzten titanenhaften Kräfte eingesetzt hat.
Wir wollen leben und schaffen für die Freiheit
unserer Kirche und wollen dabei in Görres' Geist
den von uns im Glauben getrennten Volksgenossen