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ligen Stuhl gemachtes Abfindungsanerbieten, das
in seinem Hauptpunkt, der angebotenen Dotation,
zurückgewiesen wurde, in allen übrigen Punkten
jedoch, welche die unverleihbare, unveräußerliche
Souveränität betreffen, nichts zu garantieren hat.
Auch das Mandat der im Einverständnis han-
delnden großen Wehrmächte kann die Staats-
gewalt nicht übertragen, sondern nur die dauernde
Verwaltung eines eroberten Gebiets als nicht im
Widerspruch, vielmehr im Einklang mit den Inter-
essen der davon berührten Staaten stehend er-
klären. Eine eigentliche Rechtsnachfolge kann auch
dadurch nicht begründet werden.
Eine weitere Bekräftigung des Grundsatzes, daß
die Kriegseroberung eine eigene völkerrechtliche
Erwerbsart nicht ist, sondern in Wahrheit ein
okkupatorischer Akt (occupatio bellica), aus
welchem das Recht unmittelbar hervorgeht, liegt
auch darin, daß vorübergehende Waffenerfolge
des wandelbaren Kriegsglückes insolange nicht als
Okkupation gelten, bis nicht eine Entscheidung
durch die Waffen erfolgt und der besetzte Gebiets-
teil festgehalten ist. Aber auch dann ist ein Ge-
biet nur insoweit als okkupiert zu betrachten, als
dasselbe militärisch besetzt ist. Hiermit ist nicht
nur die Völkerrechtslehre, sondern auch die Kriegs-
praxis einverstanden. So besagt der erste Artikel
des Entwurfs der Brüsseler Erklärung über
Kriegsgesetz und Kriegsgebrauch vom 27. Aug.
1874: „Ein Gebiet ist als okkupiert anzusehen,
wenn es in Wirklichkeit der Autorität der feind-
lichen Armee unterworfen ist. Die Okkupation
erstreckt sich nicht weiter als auf jene Gebiete, wo
diese Autorität hergestellt ist, und zwar nach Maß-
gabe der Möglichkeit, dieselbe auszuüben.“ Ganz
denselben Grundsatz enthält Punkt 41 des vom In-
stitut für Völkerrecht publizierten „Handbüchleins
der Regeln im Landkrieg“, welcher lautet: „Ein
Gebiet wird als okkupiert betrachtet, wenn infolge
seiner Besetzung durch die feindlichen Streitkräfte
der Staat, dem es zugehört, tatsächlich aufgehört
hat, eine geregelte Autorität daselbst auszuüben,
und wofern der Invasor allein in der Lage ist, die
Ordnung aufrecht zu erhalten.“ Art. 42 der Haager
Bestimmungen lautet: „Ein Gebiet gilt als besetzt,
wenn es tatsächlich in der Gewalt des feindlichen
Heeres steht und nur so weit, als die Gewalt aus-
geübt werden kann. . . . Somit hört, wenn der
Eroberer durch die Wechselfälle des Krieges ge-
zwungen ist, ein besetztes Gebiet wieder zu räumen,
oder dasselbe freiwillig aufgegeben hat, seine Mili-
tärhoheit sofort auf, und die alte Staatsgewalt
tritt von selbst wieder in ihre Rechte und Pflichten.“
4. Folgesätze. Aus dieser Grundregel lassen
sich die rechtlichen Konsequenzen für das Verhält-
nis der Bevölkerung des besetzten Gebiets zur
Armee des Feindes und die Rechte des Invasors
bezüglich der Personen und Sachen des eroberten
Landes unschwer ableiten. Unter Hinweis auf
diese Bemerkungen über die rechtliche Natur der
Eroberung erübrigt die nochmalige Andeutung,
Eroberung.
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daß unkörperliche Sachen Gegenstand unmittel-
barer Okkupation nicht sein können. Will man
gleichwohl dergleichen Befugnisse nicht gänzlich
von dem Erwerb durch Kriegseroberung aus-
schließen, so kann das nur in der Weise geschehen,
daß man einen Gegenstand okkupiert, mit welchem
dieselben in einer so engen Beziehung stehen, daß
durch ihn eine mittelbare Erwerbung auch jener
dinglichen Befugnisse, z. B. von Realservituten,
möglich wird. Bei Forderungsrechten fehlt es
durchaus an einem in die Sinne fallenden Gegen-
stand, welcher ergriffen werden könnte. Sie be-
stehen lediglich in einem persönlichen Verhältnis,
wovon in dem Berechtigten nur der eine End-
punkt, der andere in dem Verpflichteten liegt, mit-
hin in einer Rechtsbeziehung, die nicht schon in
der Ergreifung der physischen Person des Be-
rechiigten von selbst mitergriffen wird. Wenn da-
her eine mit Rechten ausgestattete Person, wäre
sie selbst das Staatsoberhaupt, von dem Feind ge-
fangen wird, so bekommt derselbe doch nichts
weiter in seinen Besitz als die Person, allenfalls
mit demjenigen, was dieselbe an körperlichen
Gegenständen bei sich trägt; aber deren Rechte hat
er dadurch noch nicht okkupiert. Selbst wenn sich
unter den ersteren Schuldverschreibungen oder
Wechsel befänden, hat er das Recht der Forderung
(ius exigende) nicht erlangt.
Noch sei der sog. „Hinterlandslehre" gedacht,
deren Kernfrage darin besteht, ob ein Staat,
welcher koloniale Eroberungen gemacht hat, sich
die Ausdehnung seiner Interessensphäre vorbe-
halten und andere Staaten von der Okkupation
seines Hinterlandes ausschließen könne. Diese
Frage ist zu verneinen, da es ein Präventions-
recht zum Okkupieren nicht gibt und die Regel,
daß nur so viel erworben ist, als der vollständigen
Bemächtigung unterzogen wurde, eine Ausnahme
nicht zuläßt.
Anläßlich der politischen Einverleibung der ita-
lienischen Herzogtümer Modena, Parma, Toskana
und der Romagna (1860) entstand die Bezeich-
nung Annexion für die Eroberung angrenzen-
der Gebiete. Nach der Ansicht französischer Publi-
zisten kennzeichnet sich dieselbe als Einverleibung
auf dem Fuß voller politischer Gleichberechtigung,
dann durch die geringe Anwendung von Waffen-
gewalt und die wirkliche oder scheinbare Zustim-
mung der Bevölkerung. Ein eigentümliches Bild
bot jene Annexion, welche Napoleon III. von dem
jungen Italien zugestanden wurde. Sie wider-
sprach der gleichzeitigen nationalen Bewegung in
Italien wenigstens bezüglich Savoyens, durch
dessen Abtretung an Frankreich das eigene Königs-
geschlecht Italiens entnationalisiert wurde. — In
der Zeit des Absolutismus, welche in einzelnen
Teilen Europas (Italien, Frankreich) allerdings
früh begann, war das Arrondierungsstreben,
das Erlangen natürlicher Grenzen in militärischem
und handelspolitischem Interesse mitunter Beweg-
grund von Erwerbungen und Eroberungen. Es