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kennzeichnet den ungeschichtlichen Sinn im 18. und
zu Beginn des 19. Jahrh., daß man keinen An-
stand nahm, altangestammte Lande gegen besser
gelegene auszutauschen, ein Vorgehen, das z. B.
für die deutsche Stellung Osterreichs, das 1815
Vorderösterreich und Flandern aufgab, nicht we-
niger verhängnisvoll wurde als die Niederlegung
bzw. Nichtwiederannahme der Kaiserkrone. Die
wohlarrondierte österreichische Grenze und die Un-
bequemlichkeit der preußischen Grenze spielte auch
bei der Entstehung des Zollvereins eine Rolle.
Literatur. A. Altere: Voetius, De occupa-
tione (1799); Brunleger, De occupatione bellica
(1702); Schwarz, De iure victoris in res devic-
torum incorporales (1720); Pfeiffer, Das Recht
der Kriegseroberung in Beziehung auf Staatskapi-
talien (1823); dann die reichhaltige Lit. über die
privatrechtl. Folgen der temporären französ. Okku-
pation eines Teiles von Deutschland, namentlich
bei Klüber, Europ. Völkerrecht II (deutsch 71851).—
B. Neuere: v. Holtzendorff, E. u. E.recht (1872);
Stoerk, Option u. Plebiszit bei E.en u. Gebiets-
zessionen (1879); v. Neumann, Das Recht der E.
(Vortrag, 1881); E.srecht, römisches, im Lichte
deutscher Rechtsanschauung (Vortrag, 1899); Heim-
burger, Der Erwerb der Gebietshoheit (1888);
Freudenthal, Volksabstimmungen u. Gebietsabtre-
tungen bei E.en (1891); Litta, L'occupazione, suo
concetto e suoi effetti sulle proprietaà pubbliche
e private nella guerra continentale (Mail. 1881);
Jeze, Etude théorique et pratique sur T’occupa-
tion comme mode d'’acquérir les territoires, en
droit international (Par. 1896). Siehe noch die
einschlägige Materie in d. Handbüchern des Völker-
rechts, sehr eingehend behandelt bei Rivier, Ull-
mann u. in Holtzendorffs Handbuch. Lentner.)]
Ersatzwesen s. Heerwesen.
Ertrag, Ertragssteuer s. Einkommen-
steuer (Bd I, Sp. 1498).
Erwerbs= und Wirtschaftsgenossen-
schaften. Unter Genossenschaft im allgemeinen
versteht man, sofern die Genossenschaft eine Art
der Gesellschaft darstellt, eine Vereinigung von
Merschen, welche ein gemeinsames Ziel durch ge-
meinsame Tätigkeit zu erreichen suchen. Der der
Genossenschaftsbildung zugrunde liegende Gedanke
ist keine Erfindung der Neuzeit, er ist so alt wie
die Menschheit. Der tiesste Grund der Genossen-
schaftsbildung wie aller Gesellschaftsbildung liegt
in der psychologischen Veranlagung des Menschen.
Der Mensch ist von Natur für das gesellschaft-
liche Leben bestimmt, und unsere ganze Kultur
hat sich nur zu entwickeln vermocht auf Grund-
lage des Gedankens, daß die Befriedigung der
verschiedenen Bedürfnisse des Menschen aus der
Kraft des einzelnen unmöglich ist. Man kann da-
her wohl begreifen, wenn die Wissenschaft für die
Anfänge der ältesten Kulturentwicklung der Völker
bereits eine Reihe von genossenschaftlichen Bil-
dungen für die verschiedenen Wirtschaftszweige,
wie Jagd, Fischfang, Ackerbau, nachgewiesen hat.
Besonders reich war das deutsche Mittelalter an
Gemeinschaftseinrichtungen für die verschiedenen
Ersatzwesen — Erwerbs= und Wirtschaftsgenossenschaften.
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Berufsklassen der Bevölkerung. In den darauf-
folgenden Jahrhunderten gingen dieselben aber meist
zugrunde, bis im 19. Jahrh. wieder eine Periode
ausgedehnter Genossenschaftsbildung sich anbahnte.
Nach dem heutigen Sprachgebrauch versteht
man unter Erwerbs= und Wirtschaftsgenossen-
schaften ausschließlich Gesellschaften von nicht
geschlossener Zahl der Mitglieder, welch letztere
einzelne Personen und Personenvereinigungen sein
können und durch freie Vereinbarung unter gleicher
Verantwortung und Berechtigung wirtschaftliche
Aufgaben behufs Erzielung wirtschaftlicher Vor-
teile einem gemeinschaftlichen Wirtschaftsbetrieb
übertragen (Kaufmann). Der Unterschied dieser
modernen Genossenschaften von den mittelalterlichen
Korporationen (Zünften usw.p besteht in der Form
und in den Zielen. Die letzteren stellten berufs-
ständische Organisationen dar und umfaßten
die verschiedenartigsten Ziele; es waren
Zwangsorganisationen, die vielfältige Lebens-
aufgaben zu erfüllen strebten. Die moderne Ge-
nossenschaft stellt sich als Organisation der Frei-
heit dar und umfaßt nicht die ganze Persönlichkeit
und die gesamte Wirtschaft der einzelnen Mit-
glieder; sie beschränkt ihre Ziele auf bestimmte
Gegenstände und läßt ihre Mitglieder nach anderer
Richtung frei. Eine gesetzliche Grundlage haben
die modernen Genossenschaften in Deutschland erst
gefunden, nachdem sie bereits in größerer Anzahl
bestanden, zuerst durch das preußische Gesetz vom
27. April 1867. Mehrere deutsche Staaten
nahmen dieses Gesetz in der Folge für den Bereich
ihrer Zuständigkeit an, bis dasselbe unter dem
4. Juli 1868 zum Norddeutschen Bundesgesetz
und nach der Errichtung des Deutschen Reiches am
1. Jan. 1871 mit geringen Anderungen zum
Deutschen Reichsgesetz erhoben wurde. Als sich
dann weiter eine Reihe Zusätze und Erweiterungen
im Laufe der Zeit notwendig erwiesen, wurde im
Jahr 1887 durch die Thronrede ein neues Ge-
nossenschaftsgesetz angekündigt. Die Beratungen
zogen sich aber hin, so daß erst mit dem 1. Mai
1889 ein neues Reichsgesetz betr. Erwerbs= und
Wirtschaftsgenossenschaften in Kraft trat, zu wel-
chem Gesetz unter dem 12. Aug. 1896 eine Novelle
erschien. Bezüglich des in Deutschland geltenden
Rechts ist sodann noch zu beachten der Art. 10 des
Einführungsgesetzes zum Handelsgesetzbuch vom
17. Mai 1897 und die Bekanntmachung des
Reichskanzlers vom 20. Mai 1898, sowie die Aus-
führungsbestimmungen des Bundesrats betr. Füh-
rung des Genossenschaftsregisters usw. vom
1. Juli 1899.
Die Berechtigung einzelner Berufsklassen zur
Bildung genossenschaftlicher Vereinigungen geht
so weit, als durch letzteres Vorgehen nicht andere
volkswirtschaftlich oder sozial berechtigte Stände
geschädigt werden. Die Möglichkeit zur Errichtung
von Genossenschaften besteht in demselben Umfang,
in welchem durch intellektuelle und moralische Eigen-
schaften zur Führung des gemeinsamen Betriebs