Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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wegungsfreiheit und größeren Opfern auf mili- 
tärischem Gebiet sich abgeneigt zeigen, so wird doch h 
der Gedanke nicht so bald von der Tagesordnung 
verschwinden, zumal auch die Liberalen vom Flügel 
Rosebergs sich der imperialistischen Idee genähert 
haben. 
5. Die neueste Zeit. Der Verlauf des 
Krieges gegen die Buren legte England eine Um- 
bildung seines Heerwesens dringend nahe. An 
dieser wurde von den Kriegsministern Brodrick bis 
Haldane ungeachtet des politischen Systemwechsels 
unter Mimwirkung des Parlamentes gearbeitet. 
Es galt die Vermehrung der Präsenzstärke des 
Heeres, dann aber auch für die Landesverteidigung 
im Kriegsfalle ein großes Aufgebot zu sichern, ein 
gewaltiges Territorialheer (Landwehr) zu schaffen. 
Gleichzeitig wurde der weitere Ausbau der Flotte 
eifrig betrieben unter Schaffung neuer schwerer, 
schneller und gewaltig armierter Typen. Während 
Militärs, so Lord Roberts, eine Massenaushebung 
auf Grund allgemeinen Dienstzwanges befürwor- 
teten, suchten die verantwortlichen Politiker die 
unsympathische Dienstpflicht zu umgehen und zum 
freiwilligen Dienst anzuregen. Der Krieg gegen 
die Buren griff die Finanzen des Landes so stark 
an, daß zu Steuererhöhungen und neuen Steuern 
gegriffen werden mußte (Kohlenausfuhrsteuer). 
Innerhalb des unionistischen Kabinetts rief die 
imperialistische und wirtschaftliche Agitation des 
Kolonialministers Chamberlain wachsende Un- 
stimmigkeit hervor. Dieser Minister verfolgte den 
Plan, auf schutzzöllnerischer Grundlage bzw. unter 
Bevorzugung des Mutterlandes durch die Kolo- 
nien und umgekehrt zwischen beiden Teilen eine 
festere Einigung herbeizuführen und damit vor 
allem auch für den Augenblick der Gefahr eine 
gewaltige militärische Macht zu schaffen. Die von 
Kanada und Australien während des Burenkrieges 
bewiesene praktische Anteilnahme schien ihn in 
dieser Hinsicht zu größeren Hoffnungen zu be- 
rechtigen, doch wurden diese auf der von ihm ein- 
berufenen Kolonialkonferenz enttäuscht. Chamber- 
lains schutzzöllnerisches Programm hielt andauernd 
das Land in Aufregung. Premierminister Lord 
Salisbury sah sich unterdessen seinem Posten nicht 
mehr gewachsen und trat diesen an Balfour ab, 
der zu lavieren versuchte, aber doch bald den Vor- 
kämpfer der Schutzpolitik mit ihrem großbritisch- 
chauvinistischen Hintergrunde preisgab und das 
Kabinett umbildete. Zwischen dem Anhang Cham- 
berlains einerseits und den scharf andrängenden 
Liberalen und Radikalen anderseits fühlte Balfour 
mehr und mehr den Boden unter sich schwinden. 
Die innerpolitischen Vorgänge führten schließlich 
Ende 1905 dazu, daß die Liberalen unter Campbell- 
Bannerman das Regiment übernahmen. Die 
Neuwahlen 190é6 brachten diesen dann eine un- 
geahnt große Mehrheit. Der Kampf um den 
Schutzzoll war entschieden; aber der Größe der 
liberalen Mehrheit entsprach nicht die innere Ge- 
schlossenheit, auch hatten die Liberalen Schulden, 
  
Großbritannien. 
  
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soziale und politische, von früheren Versprechungen 
er. Den Arbeitern wurde ein Zugeständnis ge- 
macht durch Aufnahme des Sozialisten Burns ins 
Kabinett; aber die Taten der Regierung befrie- 
digten darum doch die äußerste Linke nicht. Viele 
Jahre gebrauchte es, bis der achtstündige Gruben- 
arbeitstag durchdrang. Hatten die Iren kräftig 
zum Siege der neuen Regierung mitgeholfen, so 
blieb ihnen doch die erhoffte Selbstverwaltung 
Irlands in dem erwünschten Umfange versagt; 
sie wiesen die von der Regierung gemachten Zu- 
geständnisse als unzulänglich zurück, obwohl ihr 
Führer Redmond anfangs mit Abschlagszahlungen 
ich zufrieden erklärt hatte. In Irland brachen neue 
Unruhen aus als Ausdruck der Unzufriedenheit mit 
den weiteren zur Erleichterung des Erwerbs von 
Grundbesitz durch die Pächter getroffenen Be- 
stimmungen. Da die Iren neben ihrem nationalen 
auch den katholischen Standpunkt vertraten, muß- 
ten ebenfalls die hartnäckigen Versuche der Regie- 
rung und ihrer Mehrheit, das Schulgesetz von 
1903, welches den konfessionellen Schulen ihre 
Freiheit sicherte und ihre Erhaltung erleichterte, zu- 
ungunsten der Konfessionen umzustoßen, ihr Ver- 
hältnis zur Regierung verschärfen. Dazu kam die 
Erregung über fortbestehende Beeinträchtigung 
der Rechte und des Ansehens der Katholiken in 
religiöser und staatsbürgerlicher Hinsicht. Nach- 
wahlen brachten deshalb der Regierung unter iri- 
cher Beihilfe unangenehme Überraschungen. Dazu 
weigerte sich das nach wie vor konservative Ober= 
haus, die Schulvorlage anzunehmen. Gegen diese 
privilegierte Körperschaft wandte sich deshalb der 
ganze liberale Unmut; aber den Drohungen folgte 
keine Tat, auch dann noch nicht, als das Ober- 
haus dem liberalen Schankgesetz in einer fast ge- 
ringschätzigen Weise den Garaus machte. Eine 
neue antikonfessionelle Schulvorlage wurde unter 
diesem Eindruck von der Regierung zurückgezogen, 
deren Bemühungen, wenigstens die anglikanische 
Kirche diesmal dafür zu gewinnen, übrigens schließ- 
lich auch gescheitert waren. Ministerpräsident 
Campbell-Bannerman, der buchstäblich auf dem 
politischen Kampffelde gefallen war, hatte inzwi- 
schen im bisherigen Schatzkanzler Asquith einen 
Nachfolger erhalten. Wenn auch das Kabinett ein 
etwas radikaleres Gepräge erhielt, so blieb ihm 
deswegen ein Ansturm von weiter links her nicht 
erspart. Die Sozialisten nahmen sich der von Jahr 
zu Jahr brennender werdenden Frage der Arbeits- 
losigkeit an. Schließlich verfiel der Kriegsminister 
auf den Gedanken, die Arbeitslosen im Heere 
unterzubringen, dessen Mannschaftsbestand ja noch 
so viel zu wünschen übrig ließ. Die Bewegung 
zugunsten der politischen Rechte der Frau, die 
hauptsächlich von Frauen geführt wurde, oft unter 
burlesken Formen, bereitete den Ministern per- 
sönlich nicht wenig Unannehmlichkeiten. In der 
Opposition erstarkten nach und nach die Unio- 
nisten wieder; statt des Chamberlainschen wirt- 
schaftlichen Agitationsgedankens griffen sie zur 
  
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