Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Der Herrscher führt (Proklamation vom 4. Nov. 
1901) den Titel „Des Vereinigten Königreichs 
Großbritannien und Irland und der überseeischen 
britischen Besitzungen König, Verteidiger des 
Glaubens, Kaiser von Indien, Königliche und 
Kaiserliche Majestät“. — Der Thronerbe, welcher 
nach der Parlamentsakte von 1751 mit dem 
18. Jahre volljährig wird, ist durch seine Geburt 
Herzog von Cornwall, York und Rothesay, Earl 
von Chester, Carrick und Inverneß, Baron von 
Renfrew und Killarney, Lord der Inseln, Groß- 
steward von Schottland. Zum Prinzen von Wales 
wird er vom König ernannt. Ist der König minder- 
jährig, so hat die Königin-Mutter oder, falls diese 
gestorben ist, ein vom König im Testament oder 
vom Parlament ernannter Prinz des Hauses die 
Regentschaft; doch kann der König die während 
derselben erlassenen Gesetze bei seinem Regierungs- 
antritt verwerfen. Ist der König regierungs- 
unfähig, so führt der Thronerbe die Regentschaft 
als Prinzregent, die Königin oder, falls diese 
fehlt, ein vom Parlament ernannter Großer die 
Obhut über den kranken König. — Alle Prinzen 
des Hauses sind geborene Peers, werden mit dem 
21. Jahre volljährig, beziehen dann ein Jahrgeld 
und erhalten vom Könige besondere Herzogs= und 
Grafentitel. Die Prinzessinnen, deren älteste den 
Titel Prinzeß Royal führt, erhalten Mitgift, Aus- 
steuer und Jahrgelder, falls sie beim Ableben des 
Königs noch unverheiratet sind. 
Die gesetzgebende Gewalt teilt der König mit 
der Volksvertretung Imperial Parliament). Das 
Parlament besteht aus dem König und den drei 
Ständen des Reiches (three estates of the 
realm); den geistlichen Lords (Lords spiritual), 
den weltlichen Lords (Lords temporal), die zu- 
sammen das Oberhaus (Haus der Peers, House 
of Lords), und den sog. Gemeinen, die das Unter- 
haus (House of Commons) bilden. Seine Be- 
fugnisse sind allmählich aus dem Steuerbewilli- 
gungsrecht hervorgegangen: es beschützt die Re- 
gierungsform, beaufsichtigt die Verwaltung, berät 
die Gesetze, deren Antrag der Form nach stets von 
ihm ausgeht, bewilligt das Budget auf ein Jahr, 
legt Steuern auf und hat das Recht der Steuer- 
verweigerung. Am langsamsten haben sich seine 
Rechte in Bezug auf die Gesetzgebung entwickelt; 
hier war die Vorstellung des Volkes: „Alles Recht 
ruht in der Brust des Königs“, auch in späterer 
Zeit noch lebendig, und die Volksvertretung ver- 
mochte nur durch Petitionen einzugreifen. Erst 
seit der Revolution von 1649 ist das Parlament ein 
dem König gegenüber berechtigtes Staatsorgan, 
und seit der Reformbill von 1832 ist die parla- 
mentarische Regierung allseitig ausgebaut worden. 
Jetzt übt das Parlament neben der umfangreichen 
Gesetzgebungstätigkeit für ein großes Weltreich 
(iedes englische Gesetz muß, wenn dies ausdrücklich 
hervorgehoben wird, auch in den Kolonien Gel- 
tung haben) eine ausgedehnte Verwaltungstätig- 
keit durch parlamentarische Komitees und könig- 
Großbritannien. 
  
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liche Kommissionen aus; es gibt kaum einen Zweig 
der Verwaltung, in den das Parlament nicht ein- 
greifen könnte, sei es durch die Gesetzgebung mit- 
tels private bills, sei es durch Provisional orders 
(Verwaltungsverfügungen) der Zentralbehörden, 
die zu ihrer Gültigkeit der parlamentarischen Ge- 
nehmigung bedürfen. Das Parlament wird vom 
König jährlich wenigstens einmal berufen und 
durch eine Thronrede im Oberhaus, wozu das 
Unterhaus eingeladen wird, eröffnet. Vertagung 
kann nur durch Willensschluß jedes Hauses, Ses- 
sionsschließung (Prorogotion) und Auflösung 
durch königlichen Willensschluß erfolgen; der Tod 
des Monarchen löste es früher von selbst auf, seit 
Wilhelm III. aber tagt es noch 6 Monate nach 
dem Tode des Kronträgers weiter, wenn nicht 
der neue Monarch anders bestimmt. Ein Par- 
lament darf nicht länger als 7 Jahre bestehen 
(Seats Redistribution Act 1885); im Durch- 
schnitt betrug die Lebensdauer 3½ Jahre. Nach 
einer Prorogation beginnen alle Verhandlungen 
von neuem tbei wichtigen Bills ist eine Aus- 
nahme möglich). Zu dem Mittel der Aufhebung 
und Vertagung wird nur selten gegriffen; häu- 
figer tritt der Fall ein, daß der König andere 
Minister ernennt, die den im Parlamente her- 
vortretenden Absichten mehr befreundet sind als 
die bisherigen. 
Das Oberhaus besteht gegenwärtig. (1909) 
aus 615 Mitgliedern (Peers), die in demselben 
Sitz und Stimme haben 1) vermöge ihres Erb- 
rechts oder durch königliche Berufung (3 voll- 
jährige Princes of blood royal, 542 über 
21 Jahre alte Lords aus England und Wales); 
2) vermöge ihres Amtes (die beiden englischen 
Erzbischöfe, die Bischöfe von London, Durham 
und Winchester sowie die 21 ältesten sonstigen 
Bischöfe von England und Wales; die Ober- 
richter Englands, die nicht Peers sind, wie auch 
der Attorney= und Solicitor-General für England 
haben Sitz, aber keine Stimme); 3) durch Wahl 
auf Lebenszeit (28 Vertreter der irländischen Peers, 
von der gesamten irischen Peerage gewählt) und 
4) durch Wahl auf die Dauer des Parlaments 
(die 16 Vertreter der schottischen Peers). Die auf 
die Rechte des Adels bezüglichen Gesetzentwürfe 
müssen jederzeit zuerst dem Hause der Lords vor- 
gelegt werden, das zwar keine entscheidende poli- 
tische Gewalt mehr besitzt, aber immerhin die ge- 
setzgeberische Tätigkeit des Unterhauses auf längere 
Zeit fast lahmlegen kann, wie es die Ereignisse 
der letzten Jahre bewiesen haben. Wichtig ist es 
als oberster Gerichtshof, an den nicht nur nach 
Entscheidung der übrigen Appellhöfse Berufung 
eingelegt werden kann, sondern der auch über seine 
eigenen Mitglieder sowie über die des Unterhauses 
wegen Hochverrates richtet und auf Anklage des 
Unterhauses gegen Staatsminister und alle hohen 
Staatsbeamten einschreitet. 
Alle legislative Gewalt liegt im Unterhause, 
das aus den Abgeordneten der Grasschaften,
	        
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