Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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recht in letzter Linie zurückzuführen; aber ebenso 
unzweifelhaft tritt die andere Anschauung zutage, 
daß trotz dieses Eingreifens Gottes der Mensch, 
sobald es sich um die Feststellung seiner Rechte 
handelt, mit der Vernunft sich zu begnügen hat. 
„Das Naturrecht“, sagt Grotius (Proleg. au), 
„welches sich auf die gesellschaftliche Natur des 
Menschen bezieht, obwohl es aus den dem Men- 
schenwesen innewohnenden Prinzipien folgt, kann 
immerhin mit Recht Gott zugeschrieben werden, 
weil die Gottheit gewollt hat, daß solche Prin- 
zipien in uns leben.“ Mag man also nach dieser 
Auffassung immerhin in Gott die tiefste Quelle 
des Naturrechts finden, der andern Anschauung, 
daß auch ohne Gott das Naturrecht da sein und 
uns verpflichten würde, gab Grotius den viel er- 
wähnten emphatischen Ausdruck: „Alles, was wir 
gesagt, wäre darum nicht minder wahr, auch dann 
wahr, wenn wir zugäben, was niemand ohne ein 
großes Verbrechen zugeben kann, daß nämlich Gott 
nicht ist und um menschliche Dinge nicht sorge“ 
(Proleg. xXI), wozu Pradier-Foderé bemerkt: 
„Grotius befreite die Jurisprudenz von der Theo- 
logie. Er zeigte, daß der Begriff des Rechts ohne 
den theologischen Begriff besteht und wissenschaft- 
lich das Recht einer ganz und gar unabhängigen 
Existenz hat.“ 
Wie verwirrend diese unnatürliche Trennung 
auf die Rechtsanschauung schon bei Grotius selbst 
wirkte, zeigt sich in der von ihm (und Pufen- 
dorf) zur Begründung des Privateigentums aus- 
gebildeten Vertragstheorie trotz des Fehlens 
historischer Anhaltspunkte, der Begründung im 
Rechtsbewußtsein, des verpflichtenden Charakters 
für den Rechtsnachfolger. Ebenso steht es um Gro- 
tius' Anschauung vom Ursprunge des Staa- 
tes und dessen Entstehung aus der Phantasie eines 
„Naturzustandes“, der nur isolierte Individuen in 
undenkbarer Daseins= und Lebensweise aufwies, 
eine Annahme, welche rechtlich wie wirtschaftlich 
zum schrankenlosesten Individualismus, d. i. dem 
Sozialismus führen mußte. Nur aus dieser Legal- 
theorie für den Ursprung der Gesellschaft erklärt 
sich auch die von Pufendorf bis Fr. Paulsen (Ethik 
II: 188 f) mit seltener Einmütigkeit verfolgte 
Rechtfertigung der Stellung Grotius' zur Lüge, 
die er von der falschen Aussage (falsiloquium) 
unterschieden wissen will. Wo keine Verletzung der 
im Gesellschaftsvertrage festgestellten Rechte und 
Pflichten vorliege, könne von Lüge im engeren 
Sinne nicht die Rede sein, sondern nur von Falsch- 
aussage, eine Schwächung der seit Augustin die 
christliche Uberzeugung durchaus beherrschenden 
Anschauung. 
Und das geschah bei einem Manne, dem die 
Zustimmung zu der christlichen Glaubens= und 
Sittenlehre Herzenssache war. Man denke nur an 
seine Stellung zur Scholastik, die er aus 
lebenslangem Studium kannte und hochschätzte, der 
er als Aristoteliker (De iure pacis et belli, Pro- 
leg. X#n) treu ergeben blieb. Er erklärte (a. a. O. 
Grotius. 
  
910 
§ 52), sie sei, wenn ihre Vertreter in Moral- 
fragen eins seien, fast irrtumsfrei. Er stand mit 
der Scholastik fest auf dem Boden eines obersten 
Moralprinzips und dessen Rotwendigkeit für die 
vernünftige Menschennatur und erklärte als natur- 
rechtlich, d. i. zum natürlichen Sittengesetz gehörend 
alles, was man als der vernünftigen und gesell- 
schaftlichen Menschennatur angemessen oder unan- 
gemessen nachweisen kann (a. a. O. I 1, § 12, 1). 
Von ihm stammt die Definition (8 10) des Natur- 
rechts als dictatum rectae rationis indicans 
actui alicui ex eius çonvenientia aut dis- 
convenientia cum ipsa natura rationali in- 
esse moralem turpitudinem etc. 
Auch die öfter mit Bezug auf Grotius (und Alb. 
Gentilis) gewagte Behauptung, die eingehendere 
wissenschaftliche Beurteilung und Ausbildung des 
Völkerrechts sei protestantischen Ursprungs, ist 
unhaltbar und verwerflich, schon im Hinblick auf 
Grotius' Stellung zur Scholastik und dessen tief- 
sinnige Darlegung der grundlegenden Prinzipien 
bei Thomas von Aquin, abgesehen von den 
großen, umfangreichen Forschungen der Fr. Vit- 
toria, Dom. Soto, B. Ayala, L. Molina, Fr. 
Suarez, auf dessen Traktate De bello, Dechari- 
tate, De legibus hingewiesen sei. Hat nicht schon 
Conring (Protestant) auf die Abhängigkeit Gro- 
tius' De iure belli et pacis von Fr. Vittorias 
Schrift De iustitia et iure libri septem hinge- 
wiesen? (Vgl. Cathrein, Moralphilosophie II2 
694.) Mit allen großen Denkern der Nachschola- 
stik hielt Grotius daran fest, wie er ausdrücklich 
in den Prolegom. aussprach, daß nicht bloß die 
Vernunft, sondern auch die christlichen Glaubens- 
sätze für ihn Quellenlehre seiner Anschauungsweise 
blieb. So wenig Berechtigung also der Satz 
von dem protestantischen Ursprunge des Völker- 
rechts hat, so wenig ist dagegen einzuwenden, 
wenn die heutige Völkerrechtswissenschaft in ihrem 
an allen Schwächen des Rationalismus und Posi- 
tivismus krankenden Zustand weniger auf Grotius 
als auf seine dem nackten Rationalismus, zumal 
in protestantischen Kreisen, verfallenden Nachfolger 
zurückgeführt wird. Immerhin ist auch hier ein 
Vorbehalt für Grotius' Anschauungsweise und 
wissenschaftliche Bedeutung durchaus notwendig. 
Wenn in der Folgezeit die Glaubensspaltung mit 
der Zerstörung der Einheit der christlichen Völker- 
familie Europas, wenn das Unheil religiöser Streit- 
sucht, nationalistischer Abneigung Haß und Miß- 
trauen in die Völkerbeziehungen brachten und alle 
Bemühungen der Nekonstitution des Völkerrechts 
auf der einzig möglichen und wahren christlichen 
Grundlage bis zur Stunde vereitelten, so trägt 
Grotius daran keine Schuld, sondern das Ob- 
siegen der antichristlichen, rationalistischen und 
heute materialistischen, liberalen Weltanschauung. 
Es ist unstatthaft, ihn zum Heros jener voll- 
ständigen Säkularisation des Rechts zu machen, 
in der heute der Liberalismus seinen Stolz sieht. 
Dadurch daß man den Schwankungen und Rück-
	        
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