Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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unabhängigen, körperlich und geistig gesunden 
arbeitsamen Menschen. Die Rechtsordnung muß 
diese Bevölkerung tüchtig und leistungsfähig für 
den landwirtschaftlichen Betrieb erhalten und das 
Produktionsinteresse wahren. Sowohl die Pro- 
duktion wie das Bevölkerungsproblem und die 
Verteilungsinteressen sprechen für kleines, mittleres 
und Großeigentum. Das Grundrentenproblem 
tritt seinem Kern nach nicht so stark hervor wie 
beim Wohnungsboden. Fruchtbarkeits- und Lage- 
differentialrenten sind Folgen von Naturtatsachen 
oder von allgemein gesellschaftlichen, volkswirt- 
schaftlichen und politischen Tatsachen. 
Es wäre die Prinzipienfrage der Rechtsordnung 
für den agrarischen Boden, ob Gemeineigentum 
oder Privateigentum am günstigsten für die Pro- 
duktion und die Bevölkerung ist, zu erörtern. 
Die Anpassung an die Rechtsordnung für den 
Boden und die Bodenbearbeitung findet in den 
menschlichen Trieben und Motiven ihre Begren- 
zung, wie die geschichtliche Entwicklung zeigt. 
Eine Form des Gemeindeeigentums an Ackern, 
ohne Weiden, kommt bei den primitiven Völkern 
zum Teil bis heute vor. Gemeinsam wird die 
Bearbeitung vorgenommen und die Ernteerträge 
nach bestimmtem Maßstabe (Bedürfnis) verteilt. 
Also es liegt hier Gemeingut, Gemeinbenutzung, 
Gemeingenuß vor, wobei letzterer als eine be- 
sondere Form des Privatgenusses anzusehen ist. 
Voraussetzung für diese Wirtschaftsordnung muß 
sein: einfache, gleichmäßige Gestaltung des Be- 
triebes, wenig Kapitalaufwendung, starke Autorität 
und Gewalt wie in patriarchalischen Verhältnissen; 
eine „geglaubte, überlegene Intelligenz und Macht 
bei den Leitern des Ganzen ist erforderlich". Be- 
sonders trifft man diese Vorbedingungen bei einer 
machtvollen Stammes- oder Geschlechtsgliederung 
und bei Hauskommunionen an. Fehlen diese 
Voraussetzungen, so versagt das System ganz 
oder teilweise. Die Einführung von Fortschritten 
bietet große Schwierigkeiten. Schwer gelingt es, 
dieses System zur Schaffung einer geregelten Pro- 
duktion auszubauen. 
Die zweite Form des Gemeineigentums zeigt 
sich verbunden mit periodischen Teilungen des 
Acker= und eventuell des Wiesenlandes. Hier hat 
man Gemeingut, Privatnutzung und Privat- 
genuß; nach ökonomisch-technischen und psycho- 
logischen Voraussetzungen liegt dieses System ähn- 
lich wie das der ersten Form. Auch hier handelt 
es sich nur um einen extensiven, schablonenhaften 
Anbau; Kapital wird wenig aufgewendet. Für 
die Anleitung und die Ausführung der periodi- 
schen Teilungen zur Nutzung gehören die Autorität 
vor einer starken Macht, Gewohnheit, Sitte, Tra- 
dition, religiöse und sittliche Anschauungen, Un- 
parteilichkeit, Zwang, Strafen. Nur dann wird 
sich ein solches System land= und volkswirtschaft- 
lich bewähren; Fortschritte wird man kaum damit 
erreichen. Bei späteren Veränderungen versagt 
das System. Es sei nur auf die Schwierigkeiten 
Grundbesit. 
  
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bei den großrussischen Dorfgemeinden nach Auf- 
hebung der Leibeigenschaft hingewiesen. Vom So- 
zialismus könnte dieses System gewählt werden; 
die Schwierigkeiten würden in psychologischer und 
praktischer Hinsicht wohl etwas geringer sein, eine 
Gefahr bestände jedoch für das land= und volks- 
meschaftih Produktionsinteresse und den Fort- 
ritt. 
Einige Vorteile sind ja bei Gemeindeeigentum 
und Gemeindebenutzung oder Gemein= und Pri- 
vatbenutzung zu erreichen, wenn die leitenden 
Instanzen über Fähigkeiten und Mittel verfügen. 
Bessere Feldeinteilung, Kapitalzuführung, intelli- 
gente Leitung, mehr Anpassung der Kulturen an 
Bedarfsverhältnisse wären zu ermöglichen. Diese 
Aufgaben müßte der Sozialismus zuvor lösen, 
schwerlich könnte er aber die wechselnde Witterung 
und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen be- 
herrschen. Sehr schwierig müßte es erscheinen, die 
notwendigen Autoritätsverhältnisse herzustellen, 
da der Sozialismus systematisch Verachtung vor 
Höhergestellten und Geringschätzung derselben, 
„die Kritik nach oben“ pflegt. Für Triebe des 
Selbstinteresses müßten andere Gefühle, wie 
Pflichtgefühl, Ehrgefühl, Tätigkeitsdrang, Ge- 
meinsinn, eine unerhörte Stärke gewinnen. Ver- 
sagen diese Mittel, so hätten Furcht, Zwang, 
Strafe an ihre Stelle zu treten. 
Produktivgenossenschaften werden nicht mehr 
erstrebt. Dagegen käme noch die zeitweilige Ver- 
pachtung des eingezogenen Bodens in Frage. Da- 
bei dürfte es schwierig sein, die Pachtsumme fest- 
zustellen. Die Versteigerung würde wohl der ein- 
zige Weg sein. Eine praktische Durchführung bei 
der Unzahl von Betrieben würde die größten 
Schwierigkeiten bieten. 
Allerdings würde der Zuwachs der Grundrente 
der Gesamtheit zugute kommen; während einer 
längeren Pachtzeit genießt der Pächter die Rente. 
Eine große Menge von Leuten, die jetzt freie Eigen- 
tümer sind, würden nach dieser Methode zu Päch- 
tern oder abhängigen Arbeitern herabgedrückt. 
Ein Pächterstand liefert aber ein unendlich we- 
niger wertvolles, weil viel abhängigeres, weniger 
seßhaftes und mit dem Boden verwachsenes, der 
Konkurrenz mehr unterliegendes, soziales Element, 
als der Eigentümerstand es tut. 
Als Ergebnis für heutige Verhältnisse wäre 
somit anzusehen: Privateigentum, Privatnutzung, 
Privatgenuß verdient am agrarischen Boden im 
allgemeinen den Vorzug vor jedem andern Rechts- 
systeme und damit auch vor jedem wie immer 
eingerichteten und durchgeführten sozialistischen 
Gemeineigentum und sozialistischer Bewirtschaf- 
tungsweise. 
5. Beim Forstboden erscheint öffentliches, 
gesellschaftliches Gemeineigentum in der Form von 
Staats= oder Kommunaleigentum günstiger wie 
beim Agrarboden. Infolge der geschichtlichen Ent- 
wicklung befinden sich große Wäldermassen im 
Staats= und Kommunaleigentum; sowohl in
	        
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