Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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erlassen worden, und landesrechtliche kamen kaum 
in Betracht, so daß es der Rechtsprechung der 
Gerichte über die Schuldfrage nach wie vor an 
einem sichern gemeinsamen Boden fehlte. 
Im ganzen konnte das Gesetz trotz seiner ver- 
hältnismäßigen Güte dem vorhandenen Bedürf- 
nis nicht in genügendem Maße abhelfen. Geht 
man von der statistisch nachgewiesenen Tatsache 
aus, daß von allen gewerblichen Unfällen nur die 
Hälfte auf die sog. haftpflichtigen Gewerbe kam, 
daß von dieser Hälfte nur bei einem Teile ein 
„Verschulden eines Bevollmächtigten, Repräsen- 
tanten, Leiters oder Aufsehers“ nachgewiesen wer- 
den konnte, daß von diesen noch einmal ein Teil 
mit geringen, oft ganz unerheblichen Entschädi- 
gungen außergerichtlich sich abfinden ließ, weil der 
Beschädigte die Langwierigkeit des Prozessesscheute, 
so wird man es begreiflich finden, daß nur der 
kleinste Teil der gewerblichen Unfälle auf Grund 
des Haftpflichtgesetzes eine volle Entschädigung 
fand. Man hat berechnet, daß nur bei 12% aller 
Betriebsunfälle das Haftpflichtgesetz seine wohl- 
tätigen Wirkungen äußerte. Ein fernerer Mangel 
war der, daß der Arbeiter tatsächlich ohne Ent- 
schädigung blieb, wenn der Unternehmer zahlungs- 
unfähig wurde. Ein wahres Kreuz aber sowohl 
für die Gerichte wie für die Parteien mußten die 
Haftpflichtprozesse genannt werden. Sie waren 
die Ursache endloser Feindschaft und Verbitterung 
zwischen Arbeiter und Fabrikherr, die selbst nicht 
durch eine billige Entscheidung des Gerichts ge- 
heilt wurden. Sie waren der Ausdruck und der 
Träger eines unseligen Gegensatzes, der ein fried- 
liches Verhältnis zwischen beiden Ständen viel- 
fach nicht aufkommen ließ. Auch war nicht zu 
verkennen, daß in einzelnen Fällen die von den 
Gerichten zugesprochenen Entschädigungen die Exi- 
stenzsfähigkeit der verpflichteten Fabriken in Frage 
stellen mußten. In allen Fällen waren die hohen 
hüsen der Unfallprozesse eine große Unzuträg- 
lichkeit. 
Eine Ausgleichung dieser Mißstände hatte man 
von den Unfallversicherungs-Aktien- 
gesellschaften gehofft, welche seit Erlaß des 
Haftpflichtgesetzes einen raschen Ausschwung nah- 
men. Einige derselben versicherten gegen natürlich 
von den Unternehmern zu zahlende Prämien die 
Entschädigung aller Unfälle, welche unter das 
Haftpflichtgesetz fielen, andere versicherten eine 
Entschädigung aller Unfälle, auch wenn der Un- 
ternehmer selbst nicht haftbar war. Die Praxis 
dieser Gesellschaften war jedoch nicht derart, daß 
man sie als einen durchschlagenden Fortschritt zur 
Lösung der Haftpflichtfrage betrachten konnte. 
Allerdings erhielt in ihnen der Arbeiter indirekt 
einen leistungsfähigen Gläubiger. Die Gesell- 
schaften faßten durchweg ihren Standpunkt als 
Erwerbsgesellschaften dahin auf, daß sie es aus 
geschäftlichen Rücksichten in den weitaus meisten 
Fällen auf den Prozeß ankommen ließen und die 
versicherte Entschädigung nur auszahlten, wenn 
  
Haftpflicht. 
  
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der Arbeiter sein Recht gerichtlich erstritten hatte. 
Der letztere hatte somit statt eines wohlwollen- 
deren einen hartnäckigeren und hartherzigeren 
Gläubiger erhalten, der zudem dem moralischen 
Druck der Menschlichkeit und der öffentlichen 
Meinung gegenüber fast unempfindlich war. — 
Auch die auf Gegenseitigkeit gegründeten Versiche- 
rungsgesellschaften zeigten eine wenig erwünschte 
Angstlichkeit und selbst Engherzigkeit bei Reglun- 
gen der Entschädigungen. Die bureaukratische Ver- 
waltung konnte ihre Natur nicht verleugnen. 
Eine Wendung in der grundsätzlichen Auf- 
fassung des Verhältnisses zwischen Arbeiter und 
Arbeitgeber war damit unumgänglich notwendig 
geworden, besonders nachdem die von liberaler 
Seite ausgehenden Bestrebungen, die Haftpflicht 
des einzelnen Unternehmers zu ergänzen durch die 
gesetzliche Pflicht desselben, seine Arbeiter bei Un- 
fallversicherungsgesellschaften zu versichern (An- 
trag Buhl, 1882), ihrer Halbheit wegen geschei- 
tert waren. Sie trat ein mit dem Beginn der 
neuen sozialpolitischen Gesetzgebung im Deutschen 
Reich. Vgl. die Art. Hilfskassen und Arbeiterver- 
sicherung (Bd I, Sp. 317 ff). 
Diebezüglichen Gesetze verfolgen ein Prinzip, das 
von dem Standpunkt des Haftpflichtgesetzes wesent- 
lich verschieden ist. An die Stelle der individuali- 
stischen Auffassung des Verhältnisses zwischen Ar- 
beiter und Arbeitgeber ist eine organische Lösung 
der Frage aus dem Prinzip der Solidarität der 
Industrie heraus getreten, wie sie der modernen 
Entwicklung des Industrialismus allein entspricht. 
In Deutschland ist damit der Boden der engeren 
Haftpflicht grundsätzlich verlassen. An ihre Stelle 
ist eine allgemeine Versicherung aller gewerblichen 
Unfälle durch die Berufsgenossenschaften getreten, 
welche in verhältnismäßia einfachem Verfahren 
billige Entschädigungen festsetzt. 
Nur in sehr wenigen, hier nicht in Betracht 
kommenden Beziehungen hat das Haftpflichtgesetz 
noch eine Wirksamkeit behalten. Eine neue Re- 
daktion mehrerer seiner Bestimmungen, welche 
teils Streitfragen abschnitt, teils Lücken ausfüllte, 
brachte das Einf.Ges. zum B.G. B. in Art. 42. 
Das Bürgerliche Gesetzbuch selbst gab in 
§§ 823 ff eine neue Ausgestaltung der allgemeinen 
Haftung aus eigenem Verschulden, welche über den 
Gesichtskreis des römischen Rechts weit hinaus- 
geht und in § 831 den Grundsatz einführt: „Wer 
einen andern zu einer Verrichtung bestellt, ist zum 
Ersatz des Schadens verpflichtet, den der andere in 
Ausführung der Verrichtung einem Dritten wider- 
rechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, 
wenn der Geschäftsherr bei der Auswahl der be- 
stellten Person und, sofern er Vorrichtungen oder 
Gerätschaften zu beschaffen oder die Ausführung 
der Verrichtung zu leiten hat, bei der Beschaffung 
oder der Leitung die im Verkehr erforderliche Sorg- 
falt beobachtet oder wenn der Schaden auch bei An- 
wendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.“ 
Die 88§ 823, 831/32, 842/45 regeln eine allge-
	        
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