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natürlichen Endzieles ist er verlustig gegangen durch
die Sünde, durch die das Menschengeschlecht aus
der übernatürlichen Ordnung herausgetreten ist
und sich in Gegensatz zu Gott gesetzt hat. Durch
das Erlösungswerk Christi aber ist der Mensch mit
Gott versöhnt und in die übernatürliche Ordnung
wieder aufgenommen worden; durch Christus und
sein Werk ist ihm also seine übernatürliche End-
bestimmung wieder erreichbar. Aber auch nur durch
Christus. Es gibt keinen andern Weg zum Himmel
als den, der uns in Christo gebahnt ist. „Nie-
mand kommt zum Vater, außer durch miich“
(Joh. 14, 6). Verhält es sich aber so, dann muß
notwendig auch für die Erziehung das Christentum
das belebende und leitende Prinzip sein. Sie soll
ja den Zögling heranbilden für seinen zeitlichen
Beruf und für seine ewige Bestimmung. Nun kann
aber der Mensch, wie wir soeben gesehen, seine
ewige Bestimmung nur erreichen durch das Chri-
stentum, und folglich kann er auch seine zeitliche
Lebensaufgabe nur dann so erfüllen, wie er sie
nach Gottes Willen erfüllen soll, wenn er sie im
christlichen Geist erfüllt. Deshalb muß die ganze
Erziehung auf dem Christentum beruhen; der
christliche Geist ist es, von dem die Erziehung in
allen ihren Verzweigungen durchdrungen und ge-
tragen sein muß, wenn sie ihrem Zwecke genügen
soll. Nur dadurch wird es der Erziehung auch
gelingen, den Zögling sittlich zu machen und das
Böse in ihm wirksam zu bekämpfen. Das positive
Christentum allein kann eine sittlich bildende Wirk-
samkeit in der Erziehung ausüben. Wo dieses ver-
lassen wird, da erfolgt Verwilderung der Jugend
in gröberer oder in feinerer Form.
3. Stellung des Erziehers zum
Zögling. Es ergibt sich nun die weitere Frage,
welche Stellung denn der Erzieher dem Zögling
gegenüber einzunehmen hat. Die naturalistische
Pädagogik, die von einer „freien Selbstentwick-
lung“ des Zöglings träumt, ist der Ansicht, daß
der Erzieher von dem Zögling keinen Gehorsam
fordern dürfe. Die Worte „befehlen“, „gehorchen“,
meint Rousseau, müßten aus dem Wörterbuch der
Erziehung ausgestrichen werden. Der Wille des
Zöglings solle keine andere Schranke kennen als
die Notwendigkeit, an der er sich bricht. Nach den
Grundsätzen der christlichen Erziehungslehre da-
gegen ist die Stellung des Erziehers dem Zögling
gegenüber eine autoritative, die als solche von
seiten des letzteren Gehorsam heischt; denn der Er-
zieher leitet und führt den Zögling auf dem Wege,
den er gehen muß, um zum Ziele der Erziehung
zu gelangen. Eine Leitung und Führung kann
aber nur von einer Autorität ausgehen. Wer einen
andern leitet, der muß rechtliche Gewalt über dessen
Willen haben, weil er ihn nur unter dieser Be-
dingung zu jener Richtung bestimmen kann, die
ihm zu geben die Leitung bezweckt. In jener recht-
lichen Gewalt über den Willen des andern besteht
aber eben die Autorität. Fragen wir weiter, worin
denn die autoritative Stellung des Erziehers in
Erziehung.
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der Erziehung begründet sei, so sind wir in dieser
Beziehung nicht etwa auf die höhere Einsicht oder
Macht des Erziehers, sondern auf Gottes Ordnung
verwiesen. Denn diese bringt es mit sich, daß der
Mensch erzogen werden muß, und da eine Erziehung
ohne erziehliche Autorität sich nicht denken läßt,
so ist auch letztere in Gottes Ordnung begründet,
und zwar in Kraft des göttlichen Gebotes: „Du
sollst Vater und Mutter (und deren Stellvertreter)
ehren!“ Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint
die erziehliche Autorität als eine Teilnahme an
der göttlichen Autorität, der Erzieher in der er-
ziehlichen Leitung des Zöglings als Gottes Stell-
vertreter.
Das Erziehungsamt steht in erster Linie den
Eltern zu. Sie sind die geborenen Erzieher
ihrer Kinder. Dies gilt sowohl in der natürlichen
als auch in der übernatürlichen Ordnung. Nach
jener gehört die Erziehung des Kindes in die
Familie, und in dieser sind die Eltern die Träger
aller Autorität, also auch der erziehlichen. In der
übernatürlichen, christlichen Ordnung aber wird
durch das Sakrament der Ehe den Eltern zugleich
das Erziehungsamt übertragen, insofern jenes
Sakrament sie anweist, die Kinder, die sie er-
zeugen, für das Reich Gottes zu erziehen und da-
mit die Zahl der Kinder Gottes zu vermehren.
Wohnt aber den Eltern die erziehliche Autorität
in erster Linie bei, so ist damit gesagt, daß die
Eltern sowohl das Erziehungsrecht als auch die
Erziehungspflicht haben; das Erziehungsrecht:
denn die erziehliche Autorität kommt ihnen von
Gott, und darum haben sie jedem andern gegen-
über das Recht, an dieser erziehlichen Autorität
festzuhalten und sie zum Besten ihrer Kinder aus-
zuüben; die Erziehungspflicht: denn sowohl die
natürliche als auch die übernatürliche Ordnung
verpflichtet sie, für das Beste ihrer Kinder zu
sorgen, sie also auch zu ihrem zeitlichen und ewigen
Wohl durch die erziehliche Leitung zu führen. —
Das Erziehungsrecht ist für die Eltern unver-
äußerlich. Von keiner Macht, sei sie welche sie
wolle, darf es ihnen geraubt werden. Es wäre
dies ein Eingriff in die von Gott gesetzte Ord-
nung. Allerdings, wenn die Eltern die Erziehung
ihrer Kinder vollständig vernachlässigen oder ihr
Recht gar zum Schaden des Kindes mißbrauchen,
dann muß die Obrigkeit eingreifen, weil auch das
Kind ein Recht auf Erziehung hat, und da kann
es dann wohl gerechtfertigt sein, daß das Kind zur
Sicherung seiner Erziehung andern Händen an-
vertraut werden muß; aber damit wird das elter-
liche Recht nicht aufgehoben, sondern nur das
Kind gegen den Mißbrauch dieses Rechts ge-
schützt. — Ebenso ist die Erziehungspflicht der
Eltern streng genommen eine persönliche. In die
Familie gehört das Kind, hier soll es von den
Eltern erzogen werden; dazu ist die Familie von
Gott geordnet nach natürlicher und christlicher
Ordnung. Nur in Fällen, wo die Eltern außer-
stande sind, der vollen Erziehungspflicht zu ge-