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Zum zweitenmal verließ Haller das Vaterland
und wählte sich Paris zum Aufenthalt. Hier kam
er mit den kirchlich, diplomatisch und wissenschaft-
lich berühmten Männern der damaligen Zeit in
tägliche Berührung und wurde im Jahre 1825 im
Ministerium des Auswärtigen angestellt, teils um
Gutachten über staats- und völkerrechtliche Fra-
gen abzufassen, teils um die jungen, angehenden
Diplomaten in die Wissenschaft des Staats= und
Völkerrechts einzuführen. Gleichzeitig verfaßte er
eine Reihe kleinerer Schriften in französischer
Sprache, welche später in zwei Bänden unter dem
Titel Mêélanges de droit public et de haute
politique gesammelt erschienen.
Für sein Greisenalter sehnte sich Haller nach
einem friedlichen Stilleben; er kaufte zu Solo-
thurn in der Schweiz ein Landgut, erhielt allda
das Bürgerrecht der Stadt und des Kantons und
zog sich beim Ausbruch der Julirevolution im
Jahre 1830 auf seinen neuen Sitz zurück, um da
sein staatswissenschaftliches Restaurationswerk zu
vollenden. Noch einmal wurde er in die öffentliche
Laufbahn geworfen, als die infolge der Julirevo-
lution neu eingesetzten Regierungen der Schweiz
den Kulturkampf gegen die katholische Kirche durch
die sog. „Badener Konferenzartikel“ eröffneten.
Während der daraus entstandenen Verhandlungen
bekleidete Haller die Stelle eines Großrats in
seinem neuen Heimatkanton Solothurn, und er
hat durch seine Tätigkeit in Wort und Schrift
wesentlich dazu beigetragen, daß im entscheidenden
Momente die von der Kirche verworfenen Kon-
ferenzartikel auch vom Kanton Solothurn ver-
worfen und dadurch dem geplanten Kulturkampf
die Spitze abgebrochen wurde. — Während seines
24 jährigen Aufenthalts in Solothurn vollendete
er die „Restauration der Staatswissenschaft“ in
sechs Bänden, bereitete eine französische Bearbei-
tung derselben vor, schrieb die Schriften: „Ge-
schichte der kirchlichen Revolution oder der prote-
stantischen Reform in der Westschweiz“ (1836);
„Bund der Getreuen“; „Die Freimaurerei und
ihr Einfluß in der Schweiz“ (1840); „Wahre Ur-
sachen und einzig richtige Abhilfsmittel der über-
hand nehmenden Armut“; „Satan und die Re-
volution“, im Gegensatz zu den Paroles d’'un
croyant von Lamennais; „Über den vereinigten
Landtag der preußischen Monarchie“ usw. Ferner
war er ein tätiger Mitarbeiter des „Berliner po-
litischen Wochenblattes“ und nach dessen Eingehen
der „Historisch-politischen Blätter“, ein fleißiger
Korrespondent mehrerer deutschen, französischen
und schweizerischen Tagesblätter und unterhielt
bis in seine letzten Lebensstunden einen ausgedehn-
ten Briefwechsel mit Gelehrten, Staatsmännern,
Geistlichen aus den verschiedensten Ländern. Bis
in sein hohes Greisenalter war die Arbeit seine
Leidenschaft; er geizte mit der Zeit im edlen Sinne
des Wortes und gab über die Verwendung jeder
Stunde Rechenschaft in seinem bis auf die letzte
Lebenswoche fortgeführten Tagebuche. Zwei Tage
Haller.
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vor seinem Tode (21. Mai 1854) arbeitete er noch
an einem Aufsatz über die dazumal ausgebrochene
„Neueste griechische Revolution“.
Hallers großes Verdienst ist die Bekämpfung
der Lehre vom Gesellschaftsvertrage. Gegenüber
der von den englischen, französischen und deuischen
Rechtslehrern seit dem 17. und 18. Jahrh. auf-
gestellten Staatstheorie: „daß die Menschen
von Natur aus in einem wilden, recht= und gesetz-
losen Zustand leben, daher durch einen sozialen
Kontrakt sich zu einer Gesellschaft konstituieren,
Recht und Gesetz einführen, einen Staat erschaffen
und eine Staatsgewalt einsetzen müssen“, stellte
Haller folgende Punkte auf: a) Der Mensch ist
von Natur aus nichts weniger als rechtlos und
ungesellig; überall, wo Menschen mit= und neben-
einander wohnen, gestaltet sich unter ihnen schon
von Natur aus und ohne contrat social ein ge-
selliges, rechtliches Leben. b) In diesem geselligen
Leben entsteht nach göttlicher Ordnung der Dinge
auf jener Seite, welche durch moralische oder phy-
sische Kräfte den schwöcheren Mitmenschen hilft,
Herrschaft; auf jener Seite aber, welche der Hilfe-
leistung bedarf und sie empfängt, Abhängigkeit.
c) Je mehr die Berührungspunkte zwischen den
Menschen sich ausbilden, je größer, öfter, not-
wendiger die Hilfeleistung wird, desto mehr stei-
gert sich auch die Herrschaft einerseits und die
Dienstbarkeit anderseits. d) Aus dieser natürlichen
Wechselwirkung entspringt vorerst das gesellige
Verhältnis, welches Familienleben genannt wird,
in welchem Weib und Kinder vom Vater ab-
hängen, jene daher diesem gehorchen e) Je mehr
die Zahl der Familienglieder und der miteinander
wohnenden Familien wächst, je andauernder die
Zeit und je ständiger der Ort des Zusammen-
lebens wird, desto weniger genügt das einfache
Familienleben. Die natürliche Notwendigkeit führt
die Menschen und Familien, welche sich selbst nicht
genügen, sondern anderer Hilfe bedürfen, dahin,
sich an solche, welche ihnen Hilfe leisten können und
wollen, anzuschließen und denselben für den Emp-
fang und die Fortdauer der Hilfe verbindlich zu sein.
f) Aus dieser erweiterten natürlich-geselligen
Wechselwirkung entspringen ausgedehntere Korpo-
rativ= und Sozietätsverhältnisse, und ebenso ent-
steht das höhere, ständige, stetigere Verhältnis,
welches wir Staatsleben nennen. g) Die Staaten
sind daher nichts anderes als natürlich-gesellige
Verhältnisse, welche zur Selbständigkeit gelangt
sind, und sie unterscheiden sich von andern Sozie-
tätsverhältnissen nur dem Grade nach durch höhere
Macht und Freiheit. h) Die Erwerbung der Herr-
schaft wurzelt entweder in der Nähr= oder Wehr-
oder Lehrkraft, und aus diesem verschiedenartigen
Ursprung gehen entweder Patrimonial= oder
Militär-oder geistliche Staaten hervor.
i) Die Ausübung der Herrschaft ist durch ein all-
gemeines Pflichtgesetz bedingt, welches nicht von
Menschen eingesetzt, sondern von der Natur nach
göttlicher Ordnung der Dinge für alle Menschen
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