Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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und des inzwischen selbständig gewordenen Nord- 
amerika überhaupt nicht mehr unter der Herrschaft 
einer einzelnen Theorie. Zur vollständigen Allein- 
herrschaft in der Wissenschaft war die Freihan- 
delstheorie nach Smith ohnehin nicht gelangt. 
In Amerika war ihr Carey und in Deutschland 
Friedrich List („Das nationale System der poli- 
tischen Okonomie") durch seine Lehre von der 
nationalpädagogischen Aufgabe des Schutzzolles 
für noch nicht voll entwickelte Völker entgegen- 
getreten. Seitdem war hier der Streit zwischen 
Freihändlern und Schutzzöllnern nicht zur Ruhe 
gekommen. Von entscheidendem Einflusse auf die 
Haltung wird nunmehr die sich tatsächlich fühlbar 
machende gewaltige Umgestaltung der industriellen 
Technik und hauptsächlich auch des Verkehrswesens 
infolge der Erfindungen jener Zeit, auf deren 
Wirkungen für den Handel wir oben bereits in 
anderem Zusammenhange hingewiesen haben. Die 
Wechselbeziehungen auf dem Weltmarkte werden 
komplizierter, enger und intensiver, führen somit 
zu noch größerer gegenseitiger Abhängigkeit, als 
sie bisher bestanden. Es wächst damit die Ge- 
neigtheit zu Kompromissen, als welche sich die 
zahlreichen Handelsverträge der nun folgenden 
Periode darstellen. Eine kurze Übersicht der 
äußern Handelspolitik der wichtigsten Staaten 
möge folgen. 
Von den größeren Handelsstaaten der Neuzeit 
hat England allein jene Freihandelstheorie all- 
mählich zur vollen Durchführung gebracht. Einer 
der begeistertsten unermüdlichen Vorkämpfer für 
den Freihandel war hier Richard Cobden (1804 
bis 1865), ein Industrieller, der auf weiten Reisen 
zu der Erkenntnis gelangt war, daß die Besei- 
tigung der Zollschranken (Getreidezölle) der eng- 
lischen Industrie einen großen Aufschwung bringen 
würde. In der Geschichte der englischen Handels- 
politik lassen sich (nach Mayr) vier Epochen unter- 
scheiden: 1) die Übergangszeit zum gemäßigten 
Schutzzoll oder die Huskissonsche Epoche (etwa 
1820/32); 2) die freihändlerische Reformzeit oder 
die Cobden-Peelsche Epoche (1832/60); Grün- 
dung der Antikornzollliga durch Manchester Fabri- 
kanten mit Cobden und Bright an der Spitze in 
den Jahren 1838 und 1839, wonach die Man- 
chesterpartei benannt wird; 3) die Zeit der frei- 
händlerischen Handelsverträge oder die Cobden- 
Gladstonesche Epoche (1860/78); 4) die Zeit der 
schutzzöllnerischen Unterströmungen (seit 1878). 
In ganz anderer, fast umgekehrter Richtung hat 
sich die Handelspolitik Frankreichs bewegt. 
Nach der Restauration nämlich schien sie anfäng- 
lich eine freiere Wendung nehmen zu wollen; aber 
bereits 1816 wurde ein gewerbliches Schutzzoll- 
system mit Einfuhrverboten errichtet und nach der 
Agrarkrisis von 1819 folgten bis 1822 auch land- 
wirtschaftliche Zölle. Dieses Solidarschutzsystem 
erlitt auch bei dem mehrfachen Regierungswechsel 
keine wesentlichen Modifikationen; Versuche dazu 
scheiterten an der Haltung der parlamentarischen 
Handel ufw. 
  
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Vertretung. Erst Napoleon III. schaffte Erleich- 
terungen, indem er zunächst im Wege des Dekrets 
eine Reihe von Zöllen (Rohstoff= und Getreide- 
zölle, Ausfuhrzölle) ermäßigte und dann aus 
eigener Machtvollkommenheit eine Anzahl von 
Handelsverträgen, zuerst 1860 mit England, ab- 
schloß, mit Konventionaltarifen, in denen die Zölle 
nicht über 15% des Wertes ausmachten und Ge- 
treide= wie Rohstoffzölle gar nicht vorkamen; Ein- 
fuhrverbote wurden aufgehoben. 1861 wurde auch 
der Verkehr mit den Kolonien freigegeben. Nach 
dem Sturze des Kaiserreiches erstarkten sehr schnell 
wieder die auf Erhöhung der Zölle gerichteten Be- 
strebungen. Sie führten nach langen Vorarbeiten 
1881 zu einem autonomen Generaltarif, der in 
den Jahren 1885 und 1887 durch starke agrarische 
Schutzzölle vermehrt und im Jahre 1892, in wel- 
chem Frankreichs Handelsverträge abliefen, durch 
einen neuen Tarif abgelöst wurde. Dieser enthält 
einen Maximal= und Minimaltarif, welch letzterer 
denjenigen Staaten geboten wird, die ihrerseits 
das Meistbegünstigungsrecht handelsvertrags- 
mäßig einräumen; besondere Tarifverträge sollen 
nicht abgeschlossen werden. Nach Art. 11 des 
Frankfurter Friedens von 1871 besteht zwischen 
Deutschland und Frankreich der Grundsatz gegen- 
seitiger Behandlung auf dem Fuße der meist- 
begünstigten Nation. 
Rußlands Handelspolitik im 19. Jahrh. hat 
gewechselt, indem es von einem vollständigen Pro- 
hibitivsystem (bis 1824) zu hohen Schutzzöllen 
überging (1824/56), dann diese ermäßigte (1856 
bis 1877), um mit dem letzteren Jahre wieder 
durch Erhebung der Zölle in Gold deren Er- 
höhung um etwa 30 % herbeizuführen und weitere 
Erhöhungen eintreten zu lassen. Seit 1893 hat 
es mit einer Anzahl Staaten Tarifverträge mit 
gemäßigten Sätzen und sonstigen Handelserleich- 
terungen abgeschlossen. 
Die Handelspolitik der Vereinigten Staaten 
von Amerika hat nach deren Selbständigmachung 
zunächst, von der allerersten Zeit abgesehen, eine 
protektionistische Richtung, die sich dauernd ver- 
stärkt, bis seit den 1830er und 1840er Jahren 
mit der wechselnden Herrschaft der Republikaner 
und Demokraten auch eine Verstärkung oder Er- 
mäßigung der Zölle eintritt. Seit dem Bürger- 
kriege ist „die Geschichte des bestehenden Tarifs 
nichts als die Geschichte davon, wie die Kriegs- 
abgaben beibehalten, vermehrt und in ein System 
gebracht wurden, und eine Geschichte der schwäch- 
lichen und erfolglosen Versuche, die von Zeit zu 
Zeit gemacht sind, die Zölle zu vermindern und 
zu reformieren“. Von diesem Wechsel abgesehen, 
sind die Zölle von 37%½% vom Werte der zollpflich- 
tigen Einfuhr nach dem Morwill-Tarif (1861) 
auf 47% (1864), weiter auf 50% nach dem 
Mac Kinley-Tarif (1890) und endlich auf 55% 
nach dem Dingley-Tarif (1897) getrieben worden. 
Die auf Selbständigmachung der Industrie ab- 
zielende Politik begnügt sich damit nicht, sondern
	        
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