1051
und des inzwischen selbständig gewordenen Nord-
amerika überhaupt nicht mehr unter der Herrschaft
einer einzelnen Theorie. Zur vollständigen Allein-
herrschaft in der Wissenschaft war die Freihan-
delstheorie nach Smith ohnehin nicht gelangt.
In Amerika war ihr Carey und in Deutschland
Friedrich List („Das nationale System der poli-
tischen Okonomie") durch seine Lehre von der
nationalpädagogischen Aufgabe des Schutzzolles
für noch nicht voll entwickelte Völker entgegen-
getreten. Seitdem war hier der Streit zwischen
Freihändlern und Schutzzöllnern nicht zur Ruhe
gekommen. Von entscheidendem Einflusse auf die
Haltung wird nunmehr die sich tatsächlich fühlbar
machende gewaltige Umgestaltung der industriellen
Technik und hauptsächlich auch des Verkehrswesens
infolge der Erfindungen jener Zeit, auf deren
Wirkungen für den Handel wir oben bereits in
anderem Zusammenhange hingewiesen haben. Die
Wechselbeziehungen auf dem Weltmarkte werden
komplizierter, enger und intensiver, führen somit
zu noch größerer gegenseitiger Abhängigkeit, als
sie bisher bestanden. Es wächst damit die Ge-
neigtheit zu Kompromissen, als welche sich die
zahlreichen Handelsverträge der nun folgenden
Periode darstellen. Eine kurze Übersicht der
äußern Handelspolitik der wichtigsten Staaten
möge folgen.
Von den größeren Handelsstaaten der Neuzeit
hat England allein jene Freihandelstheorie all-
mählich zur vollen Durchführung gebracht. Einer
der begeistertsten unermüdlichen Vorkämpfer für
den Freihandel war hier Richard Cobden (1804
bis 1865), ein Industrieller, der auf weiten Reisen
zu der Erkenntnis gelangt war, daß die Besei-
tigung der Zollschranken (Getreidezölle) der eng-
lischen Industrie einen großen Aufschwung bringen
würde. In der Geschichte der englischen Handels-
politik lassen sich (nach Mayr) vier Epochen unter-
scheiden: 1) die Übergangszeit zum gemäßigten
Schutzzoll oder die Huskissonsche Epoche (etwa
1820/32); 2) die freihändlerische Reformzeit oder
die Cobden-Peelsche Epoche (1832/60); Grün-
dung der Antikornzollliga durch Manchester Fabri-
kanten mit Cobden und Bright an der Spitze in
den Jahren 1838 und 1839, wonach die Man-
chesterpartei benannt wird; 3) die Zeit der frei-
händlerischen Handelsverträge oder die Cobden-
Gladstonesche Epoche (1860/78); 4) die Zeit der
schutzzöllnerischen Unterströmungen (seit 1878).
In ganz anderer, fast umgekehrter Richtung hat
sich die Handelspolitik Frankreichs bewegt.
Nach der Restauration nämlich schien sie anfäng-
lich eine freiere Wendung nehmen zu wollen; aber
bereits 1816 wurde ein gewerbliches Schutzzoll-
system mit Einfuhrverboten errichtet und nach der
Agrarkrisis von 1819 folgten bis 1822 auch land-
wirtschaftliche Zölle. Dieses Solidarschutzsystem
erlitt auch bei dem mehrfachen Regierungswechsel
keine wesentlichen Modifikationen; Versuche dazu
scheiterten an der Haltung der parlamentarischen
Handel ufw.
1052
Vertretung. Erst Napoleon III. schaffte Erleich-
terungen, indem er zunächst im Wege des Dekrets
eine Reihe von Zöllen (Rohstoff= und Getreide-
zölle, Ausfuhrzölle) ermäßigte und dann aus
eigener Machtvollkommenheit eine Anzahl von
Handelsverträgen, zuerst 1860 mit England, ab-
schloß, mit Konventionaltarifen, in denen die Zölle
nicht über 15% des Wertes ausmachten und Ge-
treide= wie Rohstoffzölle gar nicht vorkamen; Ein-
fuhrverbote wurden aufgehoben. 1861 wurde auch
der Verkehr mit den Kolonien freigegeben. Nach
dem Sturze des Kaiserreiches erstarkten sehr schnell
wieder die auf Erhöhung der Zölle gerichteten Be-
strebungen. Sie führten nach langen Vorarbeiten
1881 zu einem autonomen Generaltarif, der in
den Jahren 1885 und 1887 durch starke agrarische
Schutzzölle vermehrt und im Jahre 1892, in wel-
chem Frankreichs Handelsverträge abliefen, durch
einen neuen Tarif abgelöst wurde. Dieser enthält
einen Maximal= und Minimaltarif, welch letzterer
denjenigen Staaten geboten wird, die ihrerseits
das Meistbegünstigungsrecht handelsvertrags-
mäßig einräumen; besondere Tarifverträge sollen
nicht abgeschlossen werden. Nach Art. 11 des
Frankfurter Friedens von 1871 besteht zwischen
Deutschland und Frankreich der Grundsatz gegen-
seitiger Behandlung auf dem Fuße der meist-
begünstigten Nation.
Rußlands Handelspolitik im 19. Jahrh. hat
gewechselt, indem es von einem vollständigen Pro-
hibitivsystem (bis 1824) zu hohen Schutzzöllen
überging (1824/56), dann diese ermäßigte (1856
bis 1877), um mit dem letzteren Jahre wieder
durch Erhebung der Zölle in Gold deren Er-
höhung um etwa 30 % herbeizuführen und weitere
Erhöhungen eintreten zu lassen. Seit 1893 hat
es mit einer Anzahl Staaten Tarifverträge mit
gemäßigten Sätzen und sonstigen Handelserleich-
terungen abgeschlossen.
Die Handelspolitik der Vereinigten Staaten
von Amerika hat nach deren Selbständigmachung
zunächst, von der allerersten Zeit abgesehen, eine
protektionistische Richtung, die sich dauernd ver-
stärkt, bis seit den 1830er und 1840er Jahren
mit der wechselnden Herrschaft der Republikaner
und Demokraten auch eine Verstärkung oder Er-
mäßigung der Zölle eintritt. Seit dem Bürger-
kriege ist „die Geschichte des bestehenden Tarifs
nichts als die Geschichte davon, wie die Kriegs-
abgaben beibehalten, vermehrt und in ein System
gebracht wurden, und eine Geschichte der schwäch-
lichen und erfolglosen Versuche, die von Zeit zu
Zeit gemacht sind, die Zölle zu vermindern und
zu reformieren“. Von diesem Wechsel abgesehen,
sind die Zölle von 37%½% vom Werte der zollpflich-
tigen Einfuhr nach dem Morwill-Tarif (1861)
auf 47% (1864), weiter auf 50% nach dem
Mac Kinley-Tarif (1890) und endlich auf 55%
nach dem Dingley-Tarif (1897) getrieben worden.
Die auf Selbständigmachung der Industrie ab-
zielende Politik begnügt sich damit nicht, sondern