Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Handelspolitik ausschlaggebend sein dürfen, und 
es darf durchaus nichts verschlagen, wenn hier die 
Praxis jeder Theorie zuwiderläuft. Das von der 
späteren Wissenschaft geradezu verhöhnte und aufs 
schärfste verurteilte System des Merkantilismus 
z. B. hat für eine Reihe von Staaten seine Be- 
rechtigung in sich selbst getragen, indem es ihnen 
erst eine eigene Schiffahrt (Reederei), einen aus- 
wärtigen Handel, Kolonialbesitz und vor allem 
heimische Großindustrie geschaffen und dazu bei- 
getragen hat, den Bürgerstand in die Höhe zu 
bringen. Was heute als durchaus falsch erscheint, 
braucht darum zur Zeit seiner Entwicklung und 
Blüte für einzelne Staaten handelspolitisch nicht 
unrichtig gewesen zu sein, und umgekehrt. Ent- 
sprechendes gilt von dem Freihandels-- bzw. Schutz- 
zollsystem. Immerhin werden sich gewisse grund- 
sätzliche Fehler der Vergangenheit nicht wieder- 
holen. Um bei dem Beispiel des Merkantilismus 
zu bleiben, so wird dessen falsche Anschauung über 
den Wert des Edelmetallgelds als alleiniger Quelle 
des Volksreichtums und die damit in Verbindung 
stehende über den Wert der „günstigen Handels- 
bilanz“ als überwunden gelten können, wenn auch 
die letztere gewiß nicht gleichgültig ist. Es bedarf 
daher auch nach dieser Richtung keiner weiteren 
Bemerkung. Nur mag hier darauf hingewiesen 
werden, daß unsere Handelsbilanz schon seit Jahren 
eine in erheblichem Maße ungünstige in jenem 
Sinne ist, indem sie mit einem Überschusse der 
Wareneinfuhr über die Ausfuhr abschließt. Da 
diese ungünstige Handelsbilanz (genauer Waren- 
verkehrsbilanz) hauptsächlich seit den Jahren wirt- 
schaftlichen Aufschwungs eingetreten ist, so ist da- 
mit der beste Beweis geliefert, daß sie keine zuver- 
lässige Quelle für die Aufstellung einer Bilanz der 
auf dem Handel beruhenden Schuldverbindlich- 
keiten, der Zahlungsverpflichtungen einerseits und 
der Zahlungsguthaben anderseits, also der sog. 
„Zahlungsbilanz“ unseres Landes, und daß na- 
mentlich die letztere nicht notwendig auch eine un- 
günstige ist. Reine Theorie ist es wiederum, wenn 
der Satz aufgestellt wird, die autonome Politik. 
natürlich Schutzzollpolitik in diesem Falle, sei der 
Bindung durch Verträge vorzuziehen; denn hier- 
bei wird stets von einer rein theoretischen, prak- 
tisch niemals zutreffenden Voraussetzung aus- 
gegangen, nämlich der Voraussetzung vollster 
Freiheit, um nicht zu sagen Willkür des Handelns. 
Davon kann aber nach der modernen Entwicklung 
keine Rede sein. Kein einziger Staat der Jetztzeit 
ist, solange noch nicht die oben erwähnten Pläne 
zur Wirklichkeit gediehen sind, imstande, in 
Handel und Verkehr sich von andern abzuschließen, 
woraus folgt, daß auch kein einziger vollständig 
Herr seines Handelns ist, und je mehr Handel 
und Verkehr und damit die wechselseitigen Be- 
ziehungen wachsen, um so mehr wächst auch noch 
die wechselseitige Abhängigkeit. Auf Kompro= 
misse, Verträge weist daher die ganze Entwicklung 
hin, es muß daher einer vertragsmäßigen Reglung 
Handelsbilanz — Handelskammern. 
  
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das Wort geredet werden. Daß dabei die soli- 
darische Berücksichtigung aller Produktionszweige 
vorausgesetzt wird, ergibt sich aus dem eben über 
die Unterordnung der Handelspolitik unter die 
gesamte Wirtschaftspolitik Gesagten. Daß eine 
derartige Reglung auch vom rein politischen 
Standpunkte sich empfiehlt, bedarf keines weiteren 
Beweises. 
Literatur. Heeren, Ideen über Politik, Verkehr 
u. Handel der alten Welt (6 Bde, (1824/26); 
Richter, Welthandel u. Verkehr im Altert. (1886); 
Joh. Falke, Gesch. des deutschen Handels (2 Bde, 
1859/60); A. Beer, Gesch. des Welthandels 
(3 Abt., 1860/84); Heyd, Gesch. des Levantehan- 
dels im Mittelalter (2 Bde, 1879); H. Scherer, 
Allg. Gesch, des Welthandels (2 Bde, 1852/53); 
O. Nosl, Hist. du commerce du monde (2 Bde, 
Par. 1891/94); Pigeonneau, Hist. du commerce 
de la France (2 Bde, ebd. 1885/88); Levi, Hist. 
of British Commerce (Lond. 21880); A. Schulte, 
Gesch, des mittelalterlichen Handels u. Verkehrs 
(2 Bde, 1900); R. Mayer, Lehrbuch der Handels- 
gesch. (21901 
Roscher, System der Volkswirtschaft III: Handel 
u. Gewerbefleiß (71899); G. Cohn, System der 
Nationalökonomie III (1898); Schmoller, Grund- 
riß der Volkswirtschaft II (1904); Schönberg, 
Handbuch der polit. Okonomie II (711897; Aufsatz 
von Lexis). — Rathgen, Soziale Bedeutung des 
Handels (1896); R. Ehrenberg, Der Handel, seine 
wirtschaftl. Bedeutung, seine nationalen Pflichten, 
sein Verhältnis zum Staat (1897). 
K. v. Scherzer, Das wirtschaftl. Leben der Völ- 
ker (1885); ders. u. Ed. Bratassevic, Der wirtschaftl. 
Verkehr der Gegenwart (1891); E. v. Halle, Jahr- 
buch der Weltwirtschaft (1906 ff). 
Die Handelspolitik der wichtigeren Kulturstaa- 
ten in den letzten Jahrzehnten, Schriften des Ver- 
eins für Sozialpolitik Bd 49/51, 57 (1892/93); 
Beiträge zur neuesten Handelspolitik Deutschlands 
u. OÖsterreichs, Schriften des Vereins für Sozial- 
politik Bd 90/93, 98 (1900/02); Schmoller, Die 
Wandlungen der europäischen Handelspolitik im 
19. Jahrh., in Schmollers Jahrbuch 1900; A. 
Zimmermann, Die Handelspolitik des Deutschen 
Reiches vom Frankfurter Frieden bis zur Gegen- 
wart (21901); van der Borght, H. u. H. (21907); 
Grunzel, System der Handelspolitik (21906); 
Schippel, Grundzüge der Handelspolitik (21902). 
[Wellstein.] 
Handelsbilanz s. Handel (Sp. 1055). 
Handelshochschulen s. Kaufmännisches 
Unterrichtswesen. 
Handelskammern. lllgemeines und 
Geschichtliches; Handelskammern in außerdeut- 
schen Ländern; Handelskammern in Deutschland.! 
1. Allgemeines und Geschichtliches. 
Das Bedürfnis der wirtschaftlichen Berufszweige, 
durch dazu berufene Organe auf die ihre Inter- 
essen berührenden staatlichen Maßnahmen einzu- 
wirken, ist zu natürlich, als daß es sich nicht seit 
undenklichen Zeiten in den verschiedensten Formen 
stetig geltend gemacht hätte. Anderseits hat auch 
von jeher die Staatsgewalt den wirtschaftlichen 
Verhältnissen Einfluß im Staatsleben gewähren
	        
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