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Handelspolitik ausschlaggebend sein dürfen, und
es darf durchaus nichts verschlagen, wenn hier die
Praxis jeder Theorie zuwiderläuft. Das von der
späteren Wissenschaft geradezu verhöhnte und aufs
schärfste verurteilte System des Merkantilismus
z. B. hat für eine Reihe von Staaten seine Be-
rechtigung in sich selbst getragen, indem es ihnen
erst eine eigene Schiffahrt (Reederei), einen aus-
wärtigen Handel, Kolonialbesitz und vor allem
heimische Großindustrie geschaffen und dazu bei-
getragen hat, den Bürgerstand in die Höhe zu
bringen. Was heute als durchaus falsch erscheint,
braucht darum zur Zeit seiner Entwicklung und
Blüte für einzelne Staaten handelspolitisch nicht
unrichtig gewesen zu sein, und umgekehrt. Ent-
sprechendes gilt von dem Freihandels-- bzw. Schutz-
zollsystem. Immerhin werden sich gewisse grund-
sätzliche Fehler der Vergangenheit nicht wieder-
holen. Um bei dem Beispiel des Merkantilismus
zu bleiben, so wird dessen falsche Anschauung über
den Wert des Edelmetallgelds als alleiniger Quelle
des Volksreichtums und die damit in Verbindung
stehende über den Wert der „günstigen Handels-
bilanz“ als überwunden gelten können, wenn auch
die letztere gewiß nicht gleichgültig ist. Es bedarf
daher auch nach dieser Richtung keiner weiteren
Bemerkung. Nur mag hier darauf hingewiesen
werden, daß unsere Handelsbilanz schon seit Jahren
eine in erheblichem Maße ungünstige in jenem
Sinne ist, indem sie mit einem Überschusse der
Wareneinfuhr über die Ausfuhr abschließt. Da
diese ungünstige Handelsbilanz (genauer Waren-
verkehrsbilanz) hauptsächlich seit den Jahren wirt-
schaftlichen Aufschwungs eingetreten ist, so ist da-
mit der beste Beweis geliefert, daß sie keine zuver-
lässige Quelle für die Aufstellung einer Bilanz der
auf dem Handel beruhenden Schuldverbindlich-
keiten, der Zahlungsverpflichtungen einerseits und
der Zahlungsguthaben anderseits, also der sog.
„Zahlungsbilanz“ unseres Landes, und daß na-
mentlich die letztere nicht notwendig auch eine un-
günstige ist. Reine Theorie ist es wiederum, wenn
der Satz aufgestellt wird, die autonome Politik.
natürlich Schutzzollpolitik in diesem Falle, sei der
Bindung durch Verträge vorzuziehen; denn hier-
bei wird stets von einer rein theoretischen, prak-
tisch niemals zutreffenden Voraussetzung aus-
gegangen, nämlich der Voraussetzung vollster
Freiheit, um nicht zu sagen Willkür des Handelns.
Davon kann aber nach der modernen Entwicklung
keine Rede sein. Kein einziger Staat der Jetztzeit
ist, solange noch nicht die oben erwähnten Pläne
zur Wirklichkeit gediehen sind, imstande, in
Handel und Verkehr sich von andern abzuschließen,
woraus folgt, daß auch kein einziger vollständig
Herr seines Handelns ist, und je mehr Handel
und Verkehr und damit die wechselseitigen Be-
ziehungen wachsen, um so mehr wächst auch noch
die wechselseitige Abhängigkeit. Auf Kompro=
misse, Verträge weist daher die ganze Entwicklung
hin, es muß daher einer vertragsmäßigen Reglung
Handelsbilanz — Handelskammern.
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das Wort geredet werden. Daß dabei die soli-
darische Berücksichtigung aller Produktionszweige
vorausgesetzt wird, ergibt sich aus dem eben über
die Unterordnung der Handelspolitik unter die
gesamte Wirtschaftspolitik Gesagten. Daß eine
derartige Reglung auch vom rein politischen
Standpunkte sich empfiehlt, bedarf keines weiteren
Beweises.
Literatur. Heeren, Ideen über Politik, Verkehr
u. Handel der alten Welt (6 Bde, (1824/26);
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riß der Volkswirtschaft II (1904); Schönberg,
Handbuch der polit. Okonomie II (711897; Aufsatz
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ker (1885); ders. u. Ed. Bratassevic, Der wirtschaftl.
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Die Handelspolitik der wichtigeren Kulturstaa-
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Zimmermann, Die Handelspolitik des Deutschen
Reiches vom Frankfurter Frieden bis zur Gegen-
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Grunzel, System der Handelspolitik (21906);
Schippel, Grundzüge der Handelspolitik (21902).
[Wellstein.]
Handelsbilanz s. Handel (Sp. 1055).
Handelshochschulen s. Kaufmännisches
Unterrichtswesen.
Handelskammern. lllgemeines und
Geschichtliches; Handelskammern in außerdeut-
schen Ländern; Handelskammern in Deutschland.!
1. Allgemeines und Geschichtliches.
Das Bedürfnis der wirtschaftlichen Berufszweige,
durch dazu berufene Organe auf die ihre Inter-
essen berührenden staatlichen Maßnahmen einzu-
wirken, ist zu natürlich, als daß es sich nicht seit
undenklichen Zeiten in den verschiedensten Formen
stetig geltend gemacht hätte. Anderseits hat auch
von jeher die Staatsgewalt den wirtschaftlichen
Verhältnissen Einfluß im Staatsleben gewähren