Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1095 
Handwerk einschneidende Verlagssystem, das ihn 
finanziell unterstützt, mit seinen Machtmitteln. 
Religiöse Wirren, innere Zerfahrenheit, Macht- 
losigkeit des deutschen Kaisertums, Kriege, Ent- 
wertung des Geldes durch Einführung großer 
Mengen Edelmetalle, viele staats= und völkerrecht- 
liche Ereignisse, mit einem Wort: die Umgestal- 
tung der wirtschaftlichen, politischen und religiösen 
Verhältnisse bilden den Schlußstein in dem Nieder- 
gange des Handwerks. 
III. Die Zeit von 1731 bis 1810. Wenn der 
schon erwähnte Reichstagsbeschluß von 1731 auch 
die notwendige Umgestaltung der unzeitgemäßen 
Zunftverfassung anstrebte und eine Gesundung 
der Verhältnisse herbeiführen wollte, so war er 
doch in seinen Grundzügen zu radikal und zu 
wenig schonend für das Handwerk. Denn die 
Zünfte wurden durch ihn zu staatlichen Anstalten 
gemacht und der obrigkeitlichen Bevormundung 
ganz überantwortet; diese mußte wie Meltau 
auf die wirtschaftliche Entwicklung des bis da- 
hin privilegierten und rechtlich geschützten Hand- 
werks wirken. Eine in den Einzelstaaten pein- 
lich ausgetüftelte Gewerbegesetzgebung, welche 
durch Maßnahmen der verschiedensten Art den 
zünftigen Handwerken den Lebensnerv unterband 
und sie in der Verfolgung ihrer Interessen be- 
schränkte, war nicht das Mittel, um das Hand- 
werk wieder lebenskräftig zu machen. Im Gegen- 
teil, diese sowie die weiteren Verhältnisse, wie: die 
Anerkennung der nicht zünftigen Gewerbe, welche 
hauptsächlich die neu sich entwickelnden Fabrik- 
betriebe, die Industrie im engeren Sinne, um- 
faßten, ferner die Durchführung der Maximen 
der merkantilistischen Gewerbepolitik, die poli- 
tischen Ereignisse in Deutschland (Siebenjähriger 
Krieg usw.), endlich die zahlreichen Erfindungen 
und Entdeckungen, die Umgestaltung der Trans- 
port- und Verkehrsverhältnisse usw. — alle diese 
Momente zusammen mußten das Handwerk mit 
Naturnotwendigkeit seinem weiteren Niedergang 
entgegenführen. — Die letzten Ursachen, welche 
zur Beseitigung der schon seit dem 17. Jahrh. und 
vornehmlich seit 1731 zu einem Schemen ehe- 
maliger moralischer Kraft gewordenen Zunftver- 
fassung führen mußten, waren die sich in wirt- 
schaftlicher Hinsicht vollziehenden Anschauungen, 
welche durch die Lehren der Physiokraten, durch 
Adam Smith und seine Schule, sowie durch die 
alles nivellierenden Ideen der französischen Revo- 
lution usw. gefördert wurden. Während in Frank- 
reich die radikale Gesetzgebung von 1789 bis 1791 
die Zünfte und alle gewerblichen Privilegien be- 
reits beseitigt hatte, ging Preußen, nachdem es 
seit Mitte des 18. Jahrh. zum Teil schon für ein- 
zelne Gewerbe, namentlich in den Ostmarken, 
langsam Freiheit von der Zunft geschaffen und 
die Gewerbefreiheit zum Teil vorbereitet hatte, 
unter dem Vorbilde Frankreichs und unter dem 
Drucke der öffentlichen Meinung ebenfalls dazu 
über und führte durch Edikt vom 2. Nov. 1810 
Handwerk. 
  
1096 
die volle Gewerbefreiheit allgemein ein. — 
Die aufgehobenen Zünfte können jetzt nur als 
Vereine bestehen bleiben, ohne Beitrittszwang; 
der Befähigungsnachweis und die daraus resul- 
tierende Begrenzung des Arbeitsgebiets der ein- 
zelnen Gewerbe wird beseitigt, Stadt und Land 
gleichgestellt und der Betrieb eines Gewerbes nur 
an die Zahlung einer Gewerbesteuer geknüpft. 
Nur acht Gewerbe (Apotheker, Maurer, Schorn= 
steinfeger usw.) bleiben wegen ihres Einflusses auf 
Leben, Gesundheit usw. der behördlichen Konzes- 
sionspflicht unterworfen. — Die übrigen deutschen 
Staaten folgten nur zögernd dem preußischen 
Vorbilde (s. Jäger, Handwerkerfrage). Sachsen, 
Bayern, Kurhessen, Hannover, Braunschweig, die 
Hansestädte, die thüringischen Lande und Oster- 
reich hielten zwar zunächst noch an der Zunftver- 
fassung fest, im Laufe der beiden folgenden De- 
zennien gingen jedoch auch sie zur Gewerbefreiheit 
über, während auf der linken Rheinseite die fran- 
zösische Revolution jede Zunftverfassung bereits 
beseitigt hatte. 
IV. Die Veriode 1810/69. Mit der Ein- 
führung des Edikts von 1810 war das Hand- 
werk auf gleiche Stufe mit der Industrie gestellt 
und einem schrankenlosen Konkurrenzkampfe über- 
antwortet worden. Wenngleich anfangs die alten 
gewerblichen Korporationen noch einen nicht zu 
unterschätzenden Einfluß auf das gewerbliche Leben, 
besonders hinsichtlich der Lehrlings= und Gesellen- 
haltung und der Führung des Befähigungsnach- 
weises, ausübten und die Behörden de facto 
machtlos in der Durchführung des Edikts von 
1810 machten, so war doch vorauszusehen, wie 
schrankenlose Konkur pf verlaufen würde, 
namentlich wenn man berücksichtigt, daß das 
Handwerk sich infolge der eingetretenen Verhält- 
nisse nicht mehr wie zur Blütezeit der Zünfte im 
Besitz der wirtschaftlichen Machtmittel befand, 
sondern schon seit dem Dreißigjährigen Kriege 
höchstens die Mittel zu einer sehr bescheidenen 
kleinbürgerlichen Existenz mit sinkender Tendenz 
bot und fast nur Zwergbetriebe aufzuweisen hatte 
(*¾8 waren Alleinbetriebe ohne Gesellen, das 
Reihenschlachten, Reihenbacken usw. war einge- 
führt). K. Bücher glaubt zwar, daß das Hand- 
werk vor 100 Jahren noch alles das konkurrenz- 
los beherrscht habe, was es vom Mittelalter her 
überkommen und im 16. und 17. Jahrh. zuge- 
wonnen hatte; indessen scheint diese Annahme 
gegenüber der Logik der wirtschaftlichen Tatsachen 
nicht gerechtfertigt bzw. nur insofern verständlich, 
als damit bewiesen werden soll, daß die neue Ara 
nicht von einem Zustande allgemeiner Behäbig- 
keit im Handwerk ausgegangen sei, und daß die 
Industrie keine etwa in den letzten zwei Jahrhun- 
derten dem Handwerke eigentümlichen Absatzgebiete 
erobert habe. Man muß hierbei aber nicht außer 
acht lassen, daß die letzten drei Jahrhunderte eine 
Periode des Niederganges des Handwerks in stei- 
gendem Maße überhaupt bedeuteten, und daß es 
  
S 
# 
S
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.