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jene Gebiete zum Teil schon verloren hatte, wo die
Industrie eingesetzt hatte (z. B. Weberei usw.),
daß es anderseits die auf dem noch besessenen Ge-
biete mögliche Expansion infolge seiner Schwäche
nicht vollziehen und sich nicht weiterentwickeln
konnte. — Zweifellos ist, daß die allgemeine ge-
werbliche Entwicklung auf das seitherige Zunft-
handwerk nicht fördernd einwirkte, sondern daß sie
den von den Zünftlern bisher künstlich nieder-
gehaltenen Ausleseprozeß voll entfachte. Für die
seitherigen Zunfthandwerke, die groß geworden
waren unter Sonderrechten und geschützt durch
Privilegien, wenn auch in ihnen erstarrt und ver-
knöchert, mußte dies zu ihrer Vernichtung führen.
Diese hat auch nach Einführung des Edikts von
1810 in weitem Umfange eingesetzt. Tausende
von Handwerkern sind zugrunde gegangen und
proletarisiert worden, anderseits aber auch viele
emporgekommen und in die Klasse der Groß-
gewerbe eingetreten. — Mag die Einführung der
Gewerbefreiheit an und für sich durchaus be-
rechtigt gewesen sein und einen gewaltigen Fort-
schritt in der Entwicklung der einheimischen Volks-
wirtschaft bedeutet haben, sie geschah zu radikal
und zu doktrinär. Belege hierfür bilden die Ein-
gabe des Magistrats von Breslau im Nov. 1817,
das Gutachten des Berliner Stadtrats Dracke, das
Gesuch der Provinzialstände der Kurmark, Pom-
merns und Preußens vom 24. Dez. 1824 usw.
Alle bitten um Wiedereinführung einer zeit-
gemäßen Zunftverfassung mit Befähigungs-
nachweis. Die Notwendigkeit einer Revision der
Gewerbefreiheit erkannte die Regierung an und
machte den letztgenannten Ständen in diesem Sinne
Zusagen. Diese Revision ließ aber zwei Jahr-
zehnte auf sich warten. Die Klagen wegen Nieder-
gangs des Handwerks wurden nach E. Jäger je-
doch immer stärker, und schon im Jahre 1839
hatte eine allgemeine Krisis der kleinen Gewerbe
stattgefunden, die durch die Konkurrenz der In-
dustrie immer mehr zurückgingen; die wichtigsten
Gewerbe nahmen ab. Anderseits standen die
Handwerker nach W. Stieda allen freiheitlichen
Bestrebungen feindlich gegenüber und eröffneten
einen energischen Feldzug gegen die Übermacht des
Kapitals und die Gewerbefreiheit. So vollzog
sich im Jahre 1848 neben der politischen eine
höchst eigenartige wirtschaftliche Bewegung. All-
gemein klagte man im Handwerk über unzureichen-
den Erwerb, Verwirkung des Kredits, Stockung
des Absatzes und Proletarisierung des im Hand-
werk tätigen Mittelstandes; viele Betriebe, die
sich bisher noch, wenn auch kümmerlich, erhalten
hatten, brachen zusammen. Die infolge der Stockun-
gen beschäftigungslos gewordenen Gesellen ver-
suchten ihr Glück, indem sie sich selbständig mach-
ten; sie vergrößerten aber nur die Konkurrenz und
verschlimmerten die Lage noch. Die Lage des
Handwerks war eine äußerst trostlose. In zahl-
reichen Petitionen und Flugschriften wurden die
Ursachen dieser Not nicht in der vorübergehenden
Handwerk.
1098
Geschäftsstockung gesucht, sondern man beschuldigte
die aufkeimende Gewerbefreiheit, alles Ubel ver-
schuldet zu haben. Eine Besserung erblickte man
einzig und allein in der Rückkehr zu mittelalter-
lichen Zunfteinrichtungen.
Zahlreiche Sendschreiben aus Handwerkerkreisen
wandten sich mit Entschiedenheit gegen die Ge-
werbefreiheit. System kam aber eigentlich erst in
die Bewegung, als sich in den Tagen vom 2. bis
6. Juni 1848 in Hamburg der Vorkongreß nord-
deutscher Handwerker auftat, der von etwa 200
Gewerbetreibenden besucht war. Eigentlich sollten
nur Handwerker zu diesem Kongreß Zutritt haben;
jedoch hatte sich Professor Winkelblech aus Kassel
Eintritt zu verschaffen gewußt, und infolge seiner
Kenntnisse und Bildung wurde er bald die Seele
des ganzen Unternehmens; in den Handwerks-
meistern fand er seine begeistertsten Anhänger und
Freunde.
Der Kongreß verlangte einstimmig, die Ge-
werbefreiheit solle aufgehoben und eine natürliche,
alle Industriezweige umfassende Zunftverfassung
für ganz Deutschland eingeführt werden. Be-
schlossen wurde, eine Versammlung zu konsti=
tuieren, die einen Entwurf ausarbeiten und dem
Frankfurter Parlament vorlegen sollte. In einem
Schreiben vom 7. Juni wurde dem Parlament
der Zusammentritt dieser Versammlung, zu der
jeder deutsche Staat einen Deputierten entsenden
sollte, angekündigt. Am 15. Juli 1848 wurde
dann in Frankfurt a. M. der „Deutsche Hand-
werker= und Gewerbekongreß“ eröffnet und von
116 Handwerksmeistern aus 24 deutschen Einzel-
staaten beschickt. In meist stürmischen Sitzungen
tagte das Handwerkerparlament bis zum 18. Aug.
und unterbreitete als das Endergebnis seiner Be-
strebungen der Nationalversammlung den Ent-
wurf einer allgemeinen Handwerks= und Gewerbe-
ordnung, der sich auf einen „feierlichen, von
Millionen Unglücklicher besiegelten Protest gegen
die Gewerbefreiheit“ stützte. Der Hauptfehler
der Gewerbefreiheit sei, daß sie die Produktion
befördere, bevor die Konsumtion gesichert erscheine.
Die Gewerbeordnung sollte, wie beschlossen
wurde, nach folgenden Grundsätzen geregelt werden:
1) Für ganz Deutschland sollten in ganz gleich-
mäßiger Weise Innungen gebildet und die noch
bestehenden Zünfte umgebildet werden. Der Bei-
tritt der selbständigen Handwerker oder derjenigen,
welche technische Gewerbe betrieben, sollte obliga-
torisch gemacht werden. Die Minimalzahl der
Innungsmitglieder wurde auf 12 angesetzt; er-
reichte die Innung diese Zahl nicht, so sollte sie
mit verwandten vereinigt werden, jedoch in der
Weise, daß jede ihr Arbeitsgebiet für sich besaß.
2) Die Verwaltung der inneren Innungsange-
legenheiten sollte ausschließlich den Handwerkern
eingeräumt und hierzu eigene Organe aus ihrer
Mitte geschaffen werden, die den Gewerbestand
auch nach außen gegenüber der Staatsverwaltung
vertreten konnten. Solche Organe sollten sein