Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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folge lebhafter Agitation wurde am 5. Sept. 1862 
zu Weimar der „Deutsche Handwerkerbund“ zur 
Wahrung der Interessen des Handwerks gegrün- 
det. Dieser ging während der nächsten zwei Jahre 
mit Versammlungen in Frankfurt (1863), in Köln 
(1864) zwar lebhaft ins Zeug, vermochte sich aber 
auf die Dauer nicht zu halten, noch auch den Ent- 
wicklungsgang der Dinge aufzuhalten. Die herr- 
schende Anschauung war mittlerweile sowohl in 
den Regierungskreisen als in der Wissenschaft eine 
andere geworden. Die Ideen des Liberalismus 
drangen immer mehr durch und förderten, zumal 
die von der preußischen Regierung den Hand- 
werkern gemachten Zugeständnisse von Erfolg zur 
Besserung nicht begleitet gewesen waren, den Ge- 
danken unbeschränkter Gewerbefreiheit in den wei- 
testen Kreisen. Zuerst führte Hessen-Nassau 1860 
die Gewerbefreiheit ein, dann 1861 Sachsen und 
Oldenburg, Baden und Württemberg; die thü- 
ringischen Staaten folgten 1862 und Bayern 
1868. In Preußen machte die Regierung die 
Vorlage erst, als sie trotz der Proteste der Hand- 
werker allerseits gefordert wurde. Diese Vorlage 
sah für die Handwerker überhaupt keine besondern 
Rechte mehr vor, sondern beseitigte im Gegenteil 
die Innung als öffentlich-rechtliche Korporation. 
Das Handwerk wurde gleichgestellt auf der einen 
Seite mit dem Arbeitgeber, auf der andern mit 
dem Arbeitnehmer. Gerade hierin beruhte aber 
der große Irrtum der Gewerbevorlage und die 
Ursache für die weitere Zerreibung des Hand- 
werks; denn der Handwerksmeister ist nach seiner 
Entwicklung ein Mittelding zwischen Arbeitgeber 
und Arbeitnehmer, oft beides in einer Person, dessen 
Eigenart hätte Berücksichtigung finden müssen. Aber 
eine derartige Auffassung hätte dem der Gewerbe- 
ordnung zugrunde liegenden großen liberalen 
Grundgedanken damals strikte widersprochen; heute 
ist er dagegen schon vielfach durchbrochen (s. unten). 
— Die am 21. Juni 1869 erlassene Gewerbe- 
ordnung wurde trotz aller Proteste angenommen 
und für den Norddeutschen Bund eingeführt und 
1871 auf das ganze Deutsche Reich ausgedehnt. 
Der Kampf der Handwerker gegen die Gewerbe- 
freiheit entbrannte von neuem und kam seitdem 
nie ganz zum Stillstand. 
V. Das Handwerk seit 1869. Schon in den 
1870er Jahren setzte eine kräftige Agitation ein, 
welche jedoch, was bemerkenswert ist, nicht ledig- 
lich von den Handwerkern, sondern auch von den 
Fabrikanten ausging. Sie verlangte gewisse Be- 
schränkungen der Gewerbefreiheit, um der Unbot- 
mäßigkeit der Gehilfen zu steuern (Arbeitsbücher, 
Paß= und Strafvorschriften usw.). Da der Reichs- 
tag sich aber prinzipiell ablehnend verhielt, ent- 
stand der „Verein selbständiger Handwerker und 
Fabrikanten“, welcher verschiedene Beschränkungen 
einführen wollte. Hauptsächlich verlangt er neben 
der Trennung der Fabrikgesetzgebung von der Ge- 
werbeordnung die Reform der Innungen, die 
obligatorische Fortbildungsschule usw. Auch dieser 
Handwerk. 
  
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Verband war nicht von Dauer, er stellte nach 
einigen Jahren seine Tätigkeit wieder ein. — Auch 
die Gründung einer eigenen selbständigen parla- 
mentarischen Handwerkerpartei kam nicht zur Aus- 
führung; dagegen brachte infolge des Kompro= 
misses verschiedener Parteien, vornehmlich des 
Zentrums, der Konservativen und Antisemiten, 
das Jahr 1878 insofern eine Anderung in der 
Gewerbeordnung, als das Arbeitsbuch für Ar- 
beiter unter 21 Jahren eingeführt wurde (durch 
Novelle vom 17. Juli 1878). Eine geringe Bes- 
serung trat erst ein, als die Novelle vom 18. Juli 
1881 den Innungen wieder öffentlich-rechtlichen 
Charakter verlieh. Ebenso begünstigten die 1884 
und 1887 erlassenen Gesetze die Bildung neuer 
Innungen. 
Die Handwerker waren jedoch mit diesen halben 
Maßregeln nicht zufrieden. Am 31. Mai 1882 
kam in Magdeburg eine allgemeine deutsche Hand- 
werkerversammlung zustande, die deutlich eine aus- 
gesprochen zünftlerische Richtung vertrat. In ihren 
Resolutionen waren außer verschiedenen sonstigen 
Forderungen namentlich die Einführung des Be- 
fähigungsnachweises, die Zwangsinnung und eine 
eigene Behörde (Handwerkskammer) verlangt wor- 
den. Diese Forderung wurde seitdem in den Vor- 
dergrund der Bewegung gerückt, und ihr schloß 
sich 1890 auch der Berliner „Zentralausschuß der 
Innungsverbände“ an, welcher bis dahin auf 
dem Boden der fakultativen Innung gestanden 
hatte. Die Forderung des Handwerkerbundes, vor- 
nehmlich der Befähigungsnachweis usw., wurde 
als gemeinschaftliches Programm aufsgenommen 
und in der vom preußischen Handelsminister im 
Juli 1890 einberufenen Handwerkerkonferenz voll 
vertreten. Das Resultat dieser Konferenz waren 
Verbesserungsvorschläge zur Organisation des 
Handwerks. Inzwischen griff die Handwerker- 
bewegung immer weiter um sich, und 1890 stellten 
Ackermann, Biehl und Genossen bereits den An- 
trag, für 63 Handwerke den Befähigungsnachweis 
und die Zwangsinnung einzuführen. Dieser An- 
trag wurde zwar angenommen, vom Bundesrate 
aber abgelehnt. In den Jahren 1892, 1894 und 
1895 tagten die verschiedenen Handwerkerverbände 
und nahmen den Antrag wieder auf. Eine vorher 
(1893) in Berlin einberufene Konferenz der zu- 
ständigen Reichs= und Staatsbehörden sowie der 
Vertreter des Handwerks förderte die sog. Ber- 
lepschschen Vorschläge, welche dahin zielten, nach 
Art der Berufsgenossenschaften Handwerkerfach- 
genossenschaften zu bilden, denen jeder Gewerbe- 
treibende beitreten solle, und die das ganze Hand- 
werk mit einer obligatorischen Handwerkskammer 
an der Spitze umfaßten. Ferner wollte dieser 
Berlepschsche Entwurf eine ordnungsmäßige Lehr- 
zeit mit fakultativer Gesellenprüfungsordnung ein- 
führen, auch über die Qualität derjenigen Per- 
sonen Bestimmung treffen, welche Lehrlinge aus- 
bilden könnten usw. Dieser Entwurf wurde von 
vielen Seiten, speziell aus dem Handwerkerstande
	        
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