Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Die Finanzen der Innungen bieten 
einen Beleg für die wirtschaftliche Bedeutung 
dieser Handwerkeror Die Einnahmen 
der Zwangsinnungen betrugen für das Erhebungs- 
jahr 1904 893 M, ihre Ausgaben 1 446 353 M 
(auf ein Mitglied 6,63 J) und ihr Vermögen 
1 765 944 M (auf ein Mitglied 8,09 M). Die 
Einnahmen der freien Innungen betrugen ins- 
gesamt 8245 766 JA, ihre Ausgaben 2222 136 M 
(auf ein Mitalied 8,24 MI) und ihr Vermögen 
10 028 068 M (auf ein Mitglied 37,19 AM). Die 
Einnahmen aller Innungen zusammen betrugen 
also 10 150 659 M, die Ausgaben aller Innun- 
gen 3668 489 M (auf ein Mitglied durchschnitt- 
lich 7,.52 M) und ihr Vermögen zusammen 
11 794 012 M (auf ein Mitglied 24,18 M). 
Bei allen Innungsmitgliedern waren ins- 
gesamt 691569 Gesellen und 264 361 Lehr- 
linge beschäftigt. Den bestehenden 208 In- 
nungsausschüssen waren im Jahre 1904 2150 
Innungen (das sind 18,9% aller Innungen) mit 
156 176 Mitgliedern (31,6 % aller Mitglieder) 
angeschlossen. Die Zahl der Innungsaus- 
schüsse und der ihnen angehörenden Innungen 
hat sich mit der Zeit vermehrt, so daß am 31. Okt. 
1907 schon 271 Innungsausschüsse mit 2287 In- 
nungen (24,1% aller Innungen) bestanden. Eine 
bedeutende Wirksamkeit haben auch die Innungs- 
verbände entfaltet, insbesondere die großen 
Fachverbände einzelner Berufe. Im ganzen be- 
standen 24 selbständige Verbände, welche sich über 
das ganze Reich erstreckten mit zusammen 128 
Zweigverbänden. Dazu kommen noch 19 selb- 
ständige Verbände, die sich auf einen Teil des 
Reiches beschränken. 
Die Gesamtwirkung des Gesetzes bisher muß 
als eine günstige bezeichnet werden. Trotzdem darf 
man nicht übersehen, daß das Handwerk auch in 
der neuesten Zeit noch durch neue Unternehmer-= 
sormen vielfach verdrängt wird und eine schwere, 
schleichende Krisis durchmacht. 
Die Zukunft des Handwerks und die 
auch für weite und große Gebiete des- 
selben noch mögliche Gesundung liegt 
aber im wesentlichen auf genossenschaft- 
lichem Gebiete undin der Heranbildung 
des Nachwuchses. Alle andern Mittel ge- 
währen dauernd keinen Schutz gegen das Über- 
wuchern des Kapitalismus. Erst durch genossen- 
schaftliche Konzentration und Fachbildung ist die 
Möglichkeit gegeben, den Handwerkerstand wieder 
zur Blüte zu bringen. Die heutigen gewerblichen 
Großverhältnisse sind hieran kein Hinderungs- 
grund. Daher liegen nach dieser Richtung hin die 
Aufgaben, welche der Staat zur Erhaltung eines 
Standes zu erfüllen hat, der eine breite und außer- 
ordentlich konservative Masse der Bevölkerung um- 
faßt und der neben der Industrie und Landwirt- 
schaft eine seiner elementarsten Unterlagen bildet. 
Die neue Handwerkerorganisation in 
Osterreich baut sich auf einer etwas andern 
  
Handwerk. 
  
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Grundlage wie in Deutschland auf. Auch dort ist 
die Gewerbefreiheit durch Gesetz vom 15. März 
1883 beschränkt worden, aber viel schärfer als in 
Deutschland. Das Gesetz unterscheidet dort drei 
Arten Gewerbe; freie, d. h. nicht handwerksmäßige, 
handwerkmäßige und konzessionierte Gewerbe. Als 
handwerksmäßige sind durch ministerielle Verord- 
nung 47 Gewerbe bezeichnet worden; für diese ist 
der Verwendungsnachweis, eine Art des 
Befähigungsnachweises, durch ein Lehrzeugnis und 
ein Arbeitszeugnis über eine mehrjährige (5jährige) 
Verwendung als Gehilfe in ein und demselben Ge- 
werbe zu erbringen. Ergänzt ist das Gesetz von 
1883 durch zwei Novellen vom 23. Febr. 1897 
und 5. Febr. 1907. — Danach ist der Verwen- 
dungsnachweis auch auf bestimmte Arten der Han- 
delsgewerbe ausgedehnt worden. Die Gesellen- 
prüfung ist für das Handwerk obligatorisch ge- 
macht worden. Trotz dieser Beschränkung der Ge- 
werbefreiheit haben die in Osterreich bestehenden 
5303 Zünfte. Genossenschaften genannt, bisher 
wenig durchschlagende Erfolge erzielt. Der Ver- 
wendungsnachweis hat ihnen nicht oder nur wenig 
genützt. Im Gegenteil, das Handwerk ist dadurch 
zumeist außerordentlich eingeengt, und die Entfal- 
tung der Kräfte des einzelnen ist gehemmt. Hätte 
die österreichische Regierung seit 1892 nicht eine 
vortreffliche Art der Gewerbeförderung, die beson- 
ders dem Handwerk zugute kommt und in Preu- 
ßen als Vorbild für eine ähnliche Einrichtung ge- 
dient hat, eingeführt, so wäre dem Handwerk in 
Osterreich bisher wenig geholfen gewesen. (Vgl. 
A. Grunenberg, Förderung des Handwerks in 
Osterreich; Bericht über eine Studienreise; Neue 
Handwerkerbibliothek, 5. Bändchen, 1902.) 
Literatur. K. Bücher, Entstehung der Volks- 
wirtschaft (6(1908); ders., Art. „Gewerbe“ im Hand- 
wörterbuch der Staatswissenschaften IV (21900); 
ders., Art. „H.“ im Wörterbuch der Volkswirtschaft 
(61907); W. Stieda, Art. „Fabrik“ im Hand- 
wörterb. der Staatswissenschaften III (21900); ders., 
Art. „H.“ im Handwörterb. der Staatswissenschaf- 
ten IV; ders., Der Befähigungsnachweis, im Jahrb. 
für Gesetzgebung u. Verwaltung XIX; Schmoller, 
Zur Gesch. der deutschen Kleingewerbe (1870); derf., 
Zur Sozial= u. Gewerbepolitik der Gegenwart 
1890); ders., Die Straßburger Tucher= u. Weber- 
zunft u. das deutsche Zunftwesen (1881); Biermer, 
Art., Mittelstandsbewegung“ im Handwörterb. der 
Staatswissenschaften V (21900); ders., Art. „H.“ im 
Wörterb. der Volkswirtsch. (21907); ders., Mittel- 
standsbewegung u. das Warenhausproblem (1905); 
G. Schönberg, Handb. d. polit. Okonomie II (1897); 
K. Th. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschafts- 
gesch. in dem letzten Jahrh. des Mittelalters III, 
1.TI (1899) u. 2.TI (1901); F. Hitze, Schutz dem H. 
(1883); G. Schanz, Zur Gesch. der deutschen Ge- 
sellenverbände im Mittelalter (1876); L Brentano, 
Die Arbeitergilden der Gegenwart (2 Bde, 1877 f); 
Schriften des Vereins für Sozialpolitik Bd 53/61; 
E. Michael, Gesch. des deutschen Volkes II (1897); 
P. Voigt, Die neuere deutsche Handwerkergesetz- 
gebung, im Archiv für soz. Gesetzgebung XI; ders., 
Die Hauptergebnisse der neuesten deutschen Hand- 
—
	        
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