Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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den rechtlichen Anspruch auf weitere Arbeitslei- 
stungen und auch die Befugnis besitzt, jederzeit in 
die Arbeitsausführung einzugreifen. Diese Unter- 
scheidung zwischen Hausgewerbetreibenden und 
Heimarbeitern ist jedoch, wie die Praxis der Ju- 
dikatur gezeigt hat, schwer durchführbar und sollte 
als belangslos aufgegeben werden. Vielleicht bür- 
gert sich in der deutschen Gesetzgebung der alle 
Gruppen umfassende Ausdruck „„ausarbeit“ 
ein, der in den neuesten Gesetzentwürfen der Re- 
gierung gewählt wurde. 
III. Entstehung. Verfolgt man die Haus- 
industrie bis zu ihren ersten Ursprüngen, so lassen 
sich vornehmlich vier Entstehungsarten unter- 
scheiden, die der Hausindustrie einen häufig bis 
in die Gegenwart unauslöschlichen Stempel auf- 
geprägt haben. 
1. Der Bauer, der die freie Zeit im Winter 
und in Feierabendstunden mit Hausfleiß ausfüllte, 
der zudem die kargen Erträge des Bodens durch 
gewerbliche Arbeit vermehren wollte, konnte in der 
Regel die Erzeugnisse seiner hausgewerblichen Ar- 
beit nicht selbst auf den Markt bringen und über- 
ließ den Absatz einem Kaufmann. Auf diesem 
Wege ist meistens in den osteuropäischen Ländern 
die Hausindustrie entstanden; aber auch in andern 
Ländern verdanken viele Hausindustrien dem bäuer- 
lichen Nebenerwerb ihren Ursprung. 
2. Die weitaus häufigste Entstehungsart der 
Hausindustrie ist ihre allmähliche Entwick- 
lung aus dem Handwerk. Die Erweiterung 
des Verkehrs in Verbindung mit einer fortge- 
schrittenen Technik, das Ungenügen des lokalen 
Marktes und die dadurch hervorgerufene Notlage 
zahlreicher Handwerker zwangen diese, für einen 
Teil ihrer Erzeugnisse in der Ferne Absatz zu 
suchen. Einen auf breiter Basis organisierten 
Absatz konnte aber naturgemäß nur ein mit kauf- 
männischen Fähigkeiten und Kapital ausgerüsteter 
Unternehmer besorgen, und so kam denn rasch die 
Hausindustrie zustande, die im Auftrage des Ver- 
legers zu Hause arbeitete. Zur Notlage der Hand- 
werker trat als verstärkende Ursache auf seiten des 
Unternehmers der Kapitalismus hinzu, der in der 
Hausindustrie alsbald ein bequemes Mittel zur 
Verbilligung der Löhne und Ausbeutung der Ar- 
beitskräfte erkannte. — Der geschilderte Entwick- 
lungsgang hat bis in die neueste Zeit hinein der 
Hausindustrie große Massen von Arbeitskräften 
zugeführt. Zahlreiche Schneider, die bis vor 
wenigen Jahrzehnten selbständig für das bürger- 
liche und bäuerliche Publikum arbeiteten, haben 
sich jetzt als Hausindustrielle in den Dienst der 
Konfektionsgeschäfte gestellt, sobald diese anfingen, 
die ganze Bekleidungsindustrie infolge billigerer 
Herstellung und ausgedehnterer Marktbeziehungen 
zu beherrschen. Noch verstärkt wurden die ur- 
sprünglich aus dem Handwerk hervorgegangenen 
Hausindustrien, als infolge des Massenzuzuges 
zur Großstadt zahllose Arbeitskräfte, namentlich 
Frauen und Kinder, zu der leicht erlernbaren 
Hausindustrie. 
  
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hausindustriellen Arbeit sich drängten. Für die 
modernen großstädtischen Hausindustrien, nament- 
lich für die Kleider= und Wäschekonfektion, hat 
der Zustrom vom Lande die meisten Arbeitskräfte 
gebracht. 
3. Wenn auch im großen ganzen die Haus- 
industrie als historisches Mittelglied zwischen Hand- 
werk und Fabrik angesehen werden kann, so ist 
doch auch die Rückentwicklung der Fabrik 
in die Hausindustrie keine seltene Erschei- 
nung. Wenn dem Fabrikanten die Kosten für die 
Instandhaltung der Fabuk zu hoch erschienen und 
die Arbeit ebensogut in den Häusern der Arbeiter 
wie in seinen Fabrikräumen verrichtet werden konnte, 
so zog er die Hausindustrie vor, weil er auf diese 
Weise Raum und Kapital fordernde Maschinen 
sparte. Die Arbeiter aber glaubten ihrerseits so 
ihre Selbständigkeit besser wahren zu können. Als 
dezentralisierte Fabrikindustrie begegnet uns die 
im sächsischen Vogtlande verbreitete hausindustri- 
elle Stickerei, ebenso in sehr vielen Gegenden die 
Tabakhausindustrie. 
Als eine Rückentwicklung der Fabrik zur Haus- 
industrie kann es auch angesehen werden, wenn 
der Fabrikant den größten Teil der Produktion 
in der Fabrik vornehmen läßt, gewisse Teilopera-= 
tionen aber, die für die Hausindustrie ebenso oder 
noch mehr als für den Fabrikbetrieb passen, den 
Hausindustriellen zuweist. So ist beispielsweise 
die hausindustrielle Schuhmacherei in manchen 
Gegenden als Ergänzung der Fabrikarbeit durch 
die Schuhfabrik ins Leben gerufen worden. 
4. Als vierte Entstehungsform muß es bezeich- 
net werden, wenn durch tatkräftige Fürsten oder 
humanitär gesinnte Personen in irgend einer 
Gegend ein neues Gewerbe in hausindustrieller 
Betriebsform eingeführt wurde, wie es anderswo 
schon früher betrieben war. Meist geschah dies, 
um der Bevölkerung in der betreffenden Gegend 
eine neue Erwerbsquelle zu eröffnen und das Land 
zu bereichern. So hat Friedrich II. die Seiden- 
industrie teils als Fabrik teils als Hausindustrie 
nach Preußen verpflanzt, so hat Heinrich von der 
Leyen die Seidenhausindustrie nach Krefeld ge- 
bracht. Arme Gebirgsgegenden, wie der Taunus, 
sind durch wohlwollende Menschen mit Hausindu- 
strien beschenkt worden, die allerdings nicht immer 
der Bevölkerung zum Heile gewesen sind. 
IV. Verbreitung. Über den Umfang der 
Hausindustrie ist es außerordentlich schwer, ins 
reine zu kommen. Auch der amtlichen Statistik 
ist bisher ein großer Teil der Heimarbeit ent- 
schlüpft. Soweit sie als Nebengewerbe ausgeübt 
wird, unterbleibt häufig ihre Offenbarung, da ja 
überhaupt alle Nebenerwerbstätigkeit, wie Kinder- 
und Greisenarbeit, leicht übersehen und nur selten 
befriedigend angegeben wird. Die Fabrikarbeiter 
und zarbeiterinnen, die nur zu bestimmten Zeiten 
des Jahres Arbeit mit nach Hause nehmen, um 
sie da fertigzustellen, halten es nicht für der 
Mühe wert, auch diese hausindustrielle Beschäfti-
	        
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