Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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gung mit anzugeben. Andere, wie Frauen und 
Töchter aus Beamtenkreisen, die durch Arbeit für 
ein Magazin in Mußestunden sich ein Taschen- 
geld verdienen, schreckt das Standesbewußtsein 
davor zurück, in der amtlichen Haushaltungsliste 
als Heimarbeiterinnen zu figurieren. Die auf den 
Zählbogen der deutschen Statistik üblichen Aus- 
drücke „Gewerbe für ein fremdes Geschäft, Ge- 
werbe zu Hause für fremde Rechnung“ werden 
von den einfachen Arbeitern nicht immer richtig 
verstanden, so daß vermutlich nicht alle in die 
Liste der Hausindustriellen sich eingezeichnet haben, 
die nach der Absicht der Statistik dahin gehören. 
Wenn nach den Angaben der Unternehmer ge- 
wisse Hausindustrielle, die für verschiedene Ver- 
leger arbeiten, doppelt und mehrfach gezählt sind, 
so haben die Unternehmer auch wieder zahlreiche 
Hausindustrielle nicht angegeben, die nicht direkt 
von ihnen beschäftigt werden und um deren Exi- 
stenz sie gar nicht wissen. Aus all den verschie- 
denen Gründen ist man zu der Annahme berech- 
tigt, daß die wahre Zahl der Hausindustriellen 
größer ist, als von der Statistik angegeben wird. 
In Deutschland hat die Gewerbestatistik im 
Jahre 1895 auf Grund der Angaben der Unter- 
nehmer eine Zahl von 490 711 Hausindustriellen 
festgestelltt man darf aber wohl, wenn man die 
Hausindustrie als Haupt= und Nebenberuf mit ein- 
bezieht, die Gesamtzahl der hausindustriell Tätigen 
auf 1 Million beziffern. Am stärksten vertreten ist 
die Heimarbeit in der Textilindustrie, wenngleich 
sie hier, namentlich in der Weberei, aber auch in 
der Strickerei, Häkelei und Stickerei, beständig ab- 
nimmt. Ein sehr großes Kontingent der Heimarbeit 
stellt die Kleider= und Wäschekonfektion, wo die 
Heimarbeit noch immer an Umfang gewinnt. über- 
haupt kann in den meisten Branchen eine Zunahme 
der Heimarbeit festgestellt werden, besonders in der 
Konfektion, der Schuhmacherei, Wäscherei und 
Plätterei, Tischlerei und Tabakfabrikation. — Geo- 
graphisch betrachtet, stellt das bedeutendste Haus- 
industriegebiet in Deutschland ein zusammenhängen- 
des Territorium dar, das sich vom Glatzer Gebirgs- 
kessel und dem Eulengebirge, jenen uralten Sitzen 
der Hausindustrie, an den Nordabhängen des 
Riesen= und Erzgebirges entlang südwestlich zum 
Fichtelgebirge, nordwestlich zum Thüringer Wald 
und dem Eichsfelde hinzieht. Außerdem weisen noch 
gewisse gebirgige Gegenden im Süden und Süd- 
westen des Reiches viel Hausindustrie auf. Vor 
allem aber sind die Großstädte durchweg mit Haus- 
industrie durchsetzt. Die Hauptplätze für die hier 
besonders stark vertretene Konfektion sind Berlin, 
Breslau, Stettin, München, Hamburg, Erfurt. 
In ÖOsterreich-Ungarn wurde bei der Be- 
triebszählung im Jahre 1902 die Zahl der Be- 
  
Hausindustrie. 
  
triebe, in denen Heimarbeit Anwendung findet, und 
die Zahl der beschäftigten Heimarbeiter erhoben. 
Das Ergebnis war: 356 995 Betriebe mit 463536 
tätigen Personen. Wahrscheinlich bleiben aber diese 
Zahlen hinter der Wirklichkeit weit zurück. Ahnlich 
wie in Deutschland steht auch hier die Textilindu- 
strie an erster Stelle. Leinen= und Tuchweberei, 
Spitzenklöppelei und Strickerei sind hier von großer 
Bedeutung. Ihren Hauptsitz haben diese Industrien 
in den Sudetenländern und einigen angrenzenden n! 
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Gebietsteilen Galiziens, wo sie seit alter Zeit hei- 
misch sind. Kleider= und Mäschekonfektion haben 
ihre Hauptsitze in Wien und in Mähren. Die 
hausindustrielle Schuhmacherei beschäftigt in Wien 
zahlreiche Sitzgesellen, in Böhmen und Mähren 
bildet sie die Winterbeschäftigung landwirtschaft- 
licher Taglöhner oder Parzellenbesitzer. Unter den 
sonstigen in Osterreich vertretenen Hausindustrie- 
zweigen ragt die nordböhmische Glasindustrie an 
Bedeutung hervor. 
In der Schweiz sind mehr als 100 000 Per- 
sonen hausindustriell beschäftigt, wovon etwa 
300000 allein auf die Seidenindustrie entfallen. 
Das Seidenweben gibt besonders in den Kantonen 
Zürich, Bern, Schwyz, Basel-Stadt, Basel-Land, 
Appenzell und Aargau zahlreichen Personen Be- 
schäftigung. Die teilweise noch sehr junge Stickerei, 
die in den Kantonen St Gallen, Appenzell, Thur- 
gau zu Hause ist und sich auch auf das benachbarte 
Ausland (Vorarlberg und Süddeutschland) erstreckt, 
ist eine Verlags= und Exportindustrie ersten Ranges. 
In weitem Umfange hat sich die Genfer und Neuen- 
burger Uhrenfabrikation bis heute als Hausindu- 
strie erhalten. Das Schneider= und Schusterhand- 
werk hat in den Städten vielfach hausindustriellen 
Betrieben weichen müssen. Außerdem findet sich eine 
Reihe von kleinen Hausindustrien, wie Strohflech- 
terei, Holzschnitzerei, Korbflechterei, Töpferei u. a., 
die auf verschiedene Gebirgsgegenden sich verteilen. 
In Belgien wurden im Jahre 1896 118 750 
Hausindustrielle gezählt. Neben Weberei, Stickerei, 
Konfektion wird auch die Waffenfabrikation zum 
Teil hausindustriell betrieben. In den letzten Jah- 
ren hat sich eine Verminderung der Heimarbeit fast 
auf allen Gebieten bemerkbar gemacht, da nament- 
lich in Brüssel und in der Umgebung von Brügge 
und Gent die Verleger ihre Betriebe mehr und 
mehr zentralisieren. 
In Frankreich fordert in neuerer Zeit be- 
sondere Aufmerksamkeit die Kleider= und Wäsche- 
konfektion, die Holzschnitzerei und die vielfach mit 
elektrischer Kraft betriebene Seidenbandweberei. 
In diesen Industrien nimmt nämlich die Heim- 
arbeit beständig zu, besonders in der Umgebung 
großer Städte wie Limoges, Dijon, Lille, Rouen, 
Toulouse, Lyon. Außerdem ist die Hausindustrie 
von Bedeutung in der Spitzenindustrie, in der Woll- 
und Leinenweberei und in der Messerfabrikation. 
Großbritannien zählte im Jahre 1906 
nach den amtlichen Registern 112 555 Hausindu- 
strielle, wovon allein auf London 33 821 entfallen. 
In den Städten wird vor allem die Kleider= und 
Wäschekonfektion, die Schuhwarenfabrikation, die 
Herstellung von Bürsten und Strohmatten, die 
Schachtel= und Spielwarenfabrikation hausindu- 
striell betrieben, auf dem Lande findet sich die Haus- 
weberei und die Nagelfabrikation. 
In Italien wird seit Jahren Seidenweberei 
und Seidenspinnerei zum großen Teil hausindu- 
striell betrieben; in neuester Zeit weisen aber beide 
Branchen wachsende Betriebszentralisation auf. 
Die hausindustrielle Spitzenfabrikation hat in und 
um Chiavari ihren Hauptsitz, die Strohhutflechterei 
in der Gegend von Florenz, in den Provinzen Tos- 
kana und Emilia, die Handschuhfabrikation in 
Neapel. Andere kleinere Hausindustrien sind von 
geringer Bedeutung. 
In Rußland haben sich verschiedene aus dem 
bäuerlichen Hausfleiß hervorgewachsene Haus-
	        
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