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industrien bis heute erhalten, so das Flechten von
Bastschuhen, Filzwalken, Weben von dickem Leinen,
Böttcherei, Herstellung von Holzprodukten, Kürsch-
nerei. In Anlehnung an die kapitalistische Fabrik-
industrie oder in Konkurrenz mit derselben find
entstanden die Baumwoll= und Seidenweberei, die
Handschuhmacherei, die Posamentiererei u. a. In
den letzten Jahren beginnt aber die russische Haus-
industrie stark vor der Konkurrenz der Fabrikindu-
strie zurückzuweichen.
In den Vereinigten Staaten von Ame-
rika hat hauptsächlich die Masseneinwanderung
von Arbeitskräften geringster Qualität die Haus-
industrie hervorgerufen. Wenn sie nun auch un-
gefähr in 30 Staaten der Union existiert, so ist
sie von Bedeutung doch fast ausschließlich in den
großen Geschäftszentren von 6 Staaten: Neuyork,
Pennsylvanien, Maryland, Ohio, Illinois und
Missouri. Das fast einzig in Betracht kommende
hausindustrielle Gebiet ist die Bekleidungsindustrie,
deren sich das Sweating system in großem Um-
fange bemächtigt hat.
Die australischen Kolonien weisen im
Verhältnis zu der überhaupt erst wenig entwickelten
Industrie ziemlich viel Heimarbeit auf, hauptsäch-
lich in der Textil- und Bekleidungsindustrie, wo
das Sweating system angetroffen wird.
V. Wirtschaftliche und soziale Zustände.
Die Hausindustrie wurde früher in der national-
ökonomischen Wissenschaft, z. B. bei Roscher und
Rau, gewöhnlich als ein aus einer besseren
Vergangenheit herübergerettetes Idyll geschildert
und ihr Vorzug vor der Fabrikarbeit laut ge-
priesen. Vor allem wurde darauf hingewiesen,
daß bei der Hausindustrie die Frau nicht der Fa-
milie entzogen wird, daß überhaupt der Zusammen-
hang des Familienlebens besser gewahrt bleibt, daß
die Freiheit des einzelnen nicht durch die schema-
tische Fabrikordnung beschränkt wird usw. Diese
Vorzüge, die tatsächlich unter bestimmten Verhält-
nissen vorhanden sind, werden aber in den weitaus
häufigsten Fällen durch die der Hausindustrie we-
sentlich anhaftenden sozialen und wirtschaftlichen
Mißstände illusorisch gemacht.
Das Überwiegen der Frauenarbeit in der Haus-
industrie, die massenhafte Heranziehung von Grei-
sen und Greisinnen, von Kindern bis zum zartesten
Alter ist nicht nur deshalb zu beklagen, weil die
ohnehin schwachen Arbeitskräfte weit über das zu-
trägliche Maß ermüdet und frühzeitig aufgerieben
werden, es ist auch für die gesamte hausindustrielle
Arbeiterschaft von schlimmen Folgen. Überall, wo
die beiden Geschlechter auf dem Arbeitsmarkte in
Wettbewerb treten, wo mindere Arbeitskräfte mit
vollkräftigen Arbeitern konkurrieren, gehen die
billigsten als Sieger aus dem Kampfe hervor, und
sind für die Lohnbedingungen der ganzen übrigen
Arbeiterschaft ausschlaggebend.
Der tiefste Grund für die ganze Unsumme des
sprichwörtlich gewordenen Heimarbeiterelendes
liegt in den durchweg sehr niedrigen Löhnen. Als
Ursache des tiefen Lohnniveaus ist auf seiten der
Arbeitgeber zunächst das kapitalistische Streben
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Hausindustrie.
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anzuführen, die Unkosten des Betriebes sämtlich auf
die Arbeiter abzuwälzen, die nicht bloß die bekann-
ten Generalspesen für Arbeitsraum, Beleuchtung,
Heizung usw. tragen müssen, sondern auch durch
die denkbar niedrigsten Löhne dem Unternehmer
einen möglichst hohen Gewinn ermöglichen sollen.
Ein derartiges Bestreben wird ja nun für jeden
Unternehmer mehr oder weniger mitbestimmend
sein; aber der hausindustrielle Verleger kann es
erfolgreicher durchsetzen bei einer zusammenhangs-
losen, wenig widerstandsfähigen, zahlreichen Ar-
beiterschaft, deren berufliche Tüchtigkeit zudem mei-
stens sehr gering ist. Die Zwischenmeister, ins-
besondere die ungelernten, suchen die ohnehin
geringen Löhne noch weiter herabzusetzen, um auch
für ihre Person einen möglichst hohen Gewinn
zu sichern. — Das kapitalistische, auf geringe
Löhne abzielende Streben der Unternehmer findet
einen durchaus günstigen Boden in der Heim-
arbeiterschaft selbst. Mangel an fachlicher Aus-
bildung und beruflicher Tüchtigkeit, wie er vielfach
bei den Heimarbeitern angetroffen wird, muß die
Lohnansprüche stets niedrig bemessen. Dazu wirkt
das numerische Uberangebot der Arbeitskräfte in
der Hausindustrie lohndrückend. In der Großstadt
sind es die unaufhörlich zuwandernden Massen von
ungelernten Arbeitern und Arbeiterinnen, in den un-
wirtlichen ländlichen Gegenden ist es die überschüf-
sige, auf der heimatlichen Scholle verbleibende Land-
bevölkerung, die fortwährend ein starkes Angebot
von Kräften dem hausindustriellen Unternehmer
zur Verfügung stellt. Es fehlt aber an einer starken
umfassenden Organisation, die das Arbeitsangebot
verteilte und mäßigte und auf die Gestaltung der
Löhne einen maßgebenden Einfluß übte. So können
also hier die „Gesetze“ von Angebot und Nachfrage
ungehindert in Kraft treten, und nach ihnen müssen
die denkbar niedrigsten Löhne das notwendige
Resultat sein. Mangel an wirtschaftlicher Einsicht
und an organisierter Geschlossenheit läßt zudem
noch eine Reihe von Heimarbeitern zu lohndrücken-
den Faktoren für die gesamte Arbeiterschaft wer-
den. Es gibt unter ihnen eine große Zahl von
solchen, die in ihren häuslichen Verhältmissen einen
wirtschaftlichen Rückhalt haben und in der Haus-
industrie einen wenn auch vielfach unentbehrlichen
Nebenerwerb erblicken und darum auf höhere, der
Arbeitslast entsprechende Löhne gar nicht so sehr
bedacht sind. Hierher gehören die verheirateten
Heimarbeiterinnen, die nur das knappe Lohnein-
kommen ihres Mannes zu vermehren suchen, die
in der Familie verbleibenden Töchter, die das
Familieneinkommen nach Kräften stärken wollen,
die Frauen und Töchter der mittleren Stände,
die in Anbetracht des nicht allzu hohen Gehaltes
des Familienhauptes sich in freien Stunden ein
ihnen zur vollen Verfügung stehendes Taschengeld
verdienen wollen, die Landleute, die ihr bäuerliches
Anwesen vor dem Schlimmsten, vor dem Ver-
hungern, bewahrt. Die Anspruchslosigkeit verleitet
die meist isoliert lebenden und jeder Solidarität
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