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baren Heimarbeiter häufig noch dazu, sich gegen-
seitig nach Kräften zu unterbieten.
Alle diese Ursachen zusammengenommen be-
wirken, daß die Lohnverhältnisse der Heimarbeiter
in der Regel ungünstige sind. Nicht einmal Las-
salles ehernes Lohngesetz gibt für die Gestaltung
der Heimarbeitslöhne die richtige Formel ab. Der
Lohn bleibt hier nicht auf den notwendigen Le-
bensunterhalt beschränkt, der gewohnheitsmäßig
zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung
erforderlich ist. Der Heimarbeitslohn gravitiert
nicht um diesen Punkt jederzeit herum, ohne sich
dauernd über ihn zu erheben oder unter ihn be-
deutend herabzufallen. Er hat nach den heute die
Heimarbeitslöhne bestimmenden Verhältnissen die
Tendenz, dauernd unter jenen Punkt herabzu-
sinken.
Besonders niedrige Löhne wurden beobachtet
in der Hausweberei, in der Konfektion und in der
Spielwarenfabrikation. Wenn nun auch anzuer-
kennen ist, daß viele Heimarbeiter, zumal die ge-
lernten, durchaus zufriedenstellende Löhne erhalten,
so kann doch für die breite Masse der Heimarbeiter-
schaft gelten, daß ihre Löhne „zu wenig zum Leben
und zuviel zum Sterben bieten“.
Eine Wirkung der geringen Entlöhnung ist die
übermäßige Arbeitsdauer. Die Arbeitszeit ist ein
Moment in der Beschäftigung des Heimarbeiters,
über das er frei verfügt, das er beliebig einschränken
und ausdehnen kann, um das Ungünstige der Lohn-
verhältnisse einigermaßen auszugleichen. So ist
nachgewiesenermaßen die tägliche Arbeitszeit zu-
weilen auf 17, ja 19 Stunden ausgedehnt. Sol-
ches Ubermaß wird vor allem beobachtet in den
sog. Saisonindustrien, die in gewissen Zeiten die
höchsten Anforderungen an die Arbeitskräfte stellen,
um sie die übrigen Monate des Jahres beschäf-
tigungslos zu lassen (z. B. die Industrien für
Damenmodeartikel, für Weihnachtsbaumschmuck).
Die Saisonindustrien bauen sich aber mit Vor-
liebe auf Heimarbeit auf; das in einem Fabrik-
betriebe dauernd investierte Kapital ließe es vom
geschäftlichen Standpunkte als unrichtig erscheinen,
den Betrieb längere Zeit im Jahre ruhen zu lassen;
dies gestattet nur der mit ganz geringem Kapital
arbeitende Verlagsbetrieb.
Das geringe Arbeitseinkommen hat viele groß-
städtische Heimarbeiter dazu verleitet, an der Woh-
nung zu sparen. Den Übelstand, daß die Woh-
nungen zu klein sind und den hygienischen For-
derungen an Rauminhalt nicht entsprechen, teilen
nun zwar die Heimarbeiter mit den kleinen Leuten
in der Großstadt überhaupt; aber hier kommt noch
der weitere Mißstand hinzu, daß im selben Raume
gewohnt und gearbeitet wird, daß vielfach die
Ausdünstungen der zu bearbeitenden Roh= und
Hilfsstoffe, die während des Arbeitsprozesses er-
folgenden Staubabsonderungen die Luft in den
ohnehin mit Menschen dicht angefüllten Woh-
nungen nicht bloß unerträglich, sondern auch höchst
gesundheitswidrig machen. Die nachteiligen Ein-
Hausindustrie.
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flüsse unhygienischer Wohmungen im Zusammen-
hang mit Überanstrengung und Unterernährung
untergraben in zahlreichen Fällen die Gesundheit
der Heimarbeiter und der heranwachsenden Gene-
ration.
Mit den mangelhaften Wohnungsverhältnissen
hängt noch eine Gefahr für weitere Kreise zusam-
men: die Ubertragung ansteckender Krankheiten auf
das konsumierende Publikum durch Heimarbeits-
produkte. Masern, Scharlach, Diphtherie, Tuber=
kulose, Influenza, Typhus, Ruhr, Syphilis sind
(nach Professor Sommerfeld) die Krankheiten, die
aus den engen Heimarbeiterwohnungen durch die
hier gefertigten Produkte leicht verschleppt werden
können.
Der Zusammenhang zwischen Heimarbeit und
Prostitution hinsichtlich der großstädtischen Heim-
arbeiterinnen ist nicht aufgeklärt. Wenn auch die
amtlichen Berichte weniger ungünstig lauten als
die privaten Ermittlungen hierüber, so lassen doch
die elenden Löhne, der Mangel an sittlichem Ur-
teil, die Putzsucht, die schlechten Wohnungsver-
hältnisse bei zahlreichen Heimarbeiterinnen in der
Großstadt die Gefahr der Prostitution mit großer
Wahrscheinlichkeit vermuten.
VI. Die Reform der Hausindustrieverhält-
nisse ist wesentlich abhängig von der Beantwortung
der Frage, inwieweit überhaupt die Hausindustrie
innerhalb unserer heutigen Volkswirtschaft existenz-
fähig und würdig ist, erhalten zu werden. Zahl-
reiche ältere Nationalökonomen, die ausschließlich
die ländlichen, aus bäuerlichem Hausfleiß und teil-
weise auch aus dem Handwerk hervorgegangenen
Hausindustrien im Auge hatten, redeten einer
künstlichen Erhaltung dieser Betriebsform das
Wort. Aber seitdem die schweren der Hausindu-
strie durchweg anhaftenden Mißstände gründlicher
erforscht wurden, findet jene Ansicht kaum noch
Anhänger. In das entgegengesetzte Extrem sind
radikale Sozialpolitiker, z. B. zahlreiche Sozial-
demokraten, verfallen, die völlige Abschaffung
der Heimarbeit, eine Überführung der sämtlichen
Heimarbeit in die Fabrik fordern. Nun ist freilich
zuzugeben, daß die Fabrik im allgemeinen der
Hausindustrie gegenüber eine höhere Betriebsform
darstellt, die nicht bloß in technischer, sondern auch
in sozialer Hinsicht entschiedene Vorzüge hat, in-
sofern sie durchweg ihren Arbeitern höhere Löhne,
eine geregelte Arbeitszeit und ununterbrochene Be-
schäftigung bietet. Die Errichtung von Fabriken
in ländlichen, zu relativer Ubervölkerung neigen-
den Gegenden, z. B. in den Webergegenden, würde
vielen jetzt hausindustriell beschäftigten Arbeits-
kräften eine bessere Arbeit und ein höheres Ein-
kommen bringen. Eine Voraussetzung zur In-
dustrialisierung ländlicher Gegenden würde die
Verkehrserleichterung, vor allem der Bau von
Bahnen sein, weshalb man den Bahnbauten auf
dem Lande als Wirkung eine indirekte Beseitigung
der Hausindustrie zuschreiben kann. — Eine andere
indirekte Beseitigung oder doch Beschränkung der