Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der 
Menschen nicht mehr zusammenstimmen, aus denen 
der Geist entflohen ist, länger bestehen; daß 
Formen, an denen Verstand und Empfindung 
kein Interesse mehr nimmt, mächtig genug seien, 
länger das Band eines Volkes auszumachen“ 
(K. Rosenkranz, Hegel (1844)191/93). Überzeugt, 
daß die durch die französische Staatsumwälzung 
überall wachgerufenen Erwartungen sich schließ- 
lich durchdrängen werden, überzeugt auch von der 
Notwendigkeit, daß zunächst vor allem eine das 
Individual- und Standesinteresse überwindende, 
vom Gemeingeist geleitete Staatsgesinnung zu 
fördern sei, ist er doch, von historischem Geiste er- 
füllt, dem plötzlichen Umsturz abgeneigt. Für all- 
gemeine Wahlen scheint ihm das bisher in Un- 
mündigkeit erhaltene Volk noch nicht reif; viel- 
mehr soll zunächst das Wahlrecht „in die Hände 
eines vom Hofe unabhängigen Korps von aufge- 
klärten und rechtschaffenen Männern“ niedergelegt 
werden. Humboldt und Stein haben später in 
Preußen Ahnliches erstrebt. 
Noch beachtenswerter ist die schon in Frankfurt 
geplante, aber erst in Jena vor dem Reichs- 
deputationshauptschluß vom Febr. 1803 (wahr- 
scheinlich im Winter 180 1/02) ausgeführte, von 
Mollat 1893 veröffentlichte Schrift über die Ver- 
fassung Deutschlands: „Wie kann Deutschland 
wieder ein Staat werden?“ Denn „Deutschland 
ist kein Staat mehr“, so lauten die einleitenden 
Worte der Schrift. In der Untersuchung des 
Staatsbegriffes verläßt Hegel die naturrechtliche 
Theorie und stellt sich auf den Boden der poli- 
tischen Betrachtung. Die Souveränität im Sinne 
der bloßen rechtlichen Unbeschränktheit der Staats- 
gewalt nach innen und außen genügt nicht und 
ist anderseits nicht unbedingt erforderlich; der 
Kampf um Dasein und Leben, wie die Staaten 
in jener Periode ihn führten, hatte den Blick 
von juristischen Bestimmungen auf die politischen 
Mächte geführt. „Eine Menschenmenge kann sich 
nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemein- 
schaftlichen Verteidigung der Gesamtheit ihres 
Eigentums verbunden ist. Es versteht sich hierbei 
eigentlich von selbst, aber es ist nötig, angemerkt 
zu werden, daß diese Verbindung nicht bloß die 
Absicht hat, sich zu verteidigen, sondern daß sie, 
die Macht und das Gelingen mag sein, welches 
es will, durch wirkliches Wehren sich verteidigt.“ 
Nicht Verfassung und Gesetz, sondern die Macht 
zur gemeinsamen Verteidigung bildet das ab- 
schließende Merkmal des Staates. Das deutsche 
Reich, in dem schon Pufendorf („Severinus de 
Monzambano“) aus juristischen Gründen keinen 
normalen Staat erblicken wollte, ist infolge seiner 
ungenügenden Heeres= und Finanzverfassung über- 
haupt kein wahrer Staat; es ist ein bloßer „Ge- 
dankenstaat“; denn als Stoat hat es keine Macht, 
sondern die Macht ist in den Händen der ein- 
zelnen. Sein scheinbares Leben wird überall durch 
das Ständerecht (d. h. das Recht der Einzelstaaten) 
Hegel. 
  
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lahmgelegt. Darum soll es zu einem wirklichen 
Staate sich neuerdings dadurch organisieren, daß 
die durch Mitwirkung des Volkes gestärkte Macht, 
insbesondere die militärische Macht desselben, zu- 
sammengefaßt und durch ein Oberhaupt kräftig 
vertreten wird. Wer freilich dieses Oberhaupt 
sein soll, ob die habsburgische Dynastie oder 
Preußen, diese Frage erscheint ihm nicht so ein- 
fach zu lösen, da überall kleine Staaten in der 
Anlehnung an große Gefahr laufen, verschlungen 
zu werden. Doch scheint ihm die habsburgische 
Monarchie gesättigter, Preußen dagegen größerer 
Machtausbreitung bedürftig und darum den Klei- 
neren gefährlicher zu sein, wozu noch Hegels Ab- 
neigung gegen den friderizianischen Polizeistaat 
tritt, den er an Pendanterie mit der französischen 
Republik vergleicht. Denn es ist Hegels Forde- 
rung, daß der Staat der eigenen Selbsttätigkeit 
der Bürger in Verwaltung, Rechtspflege, Wirt- 
schaft, Unterricht, sozialer und kirchlicher Fürsorge 
ein weites Feld überlasse: die moderne Freiheit, 
im Gegensatz zur antiken, die in der Beteiligung 
jedes freien Bürgers an der Staatsleitung bestand 
(eine nicht ganz zutreffende Antithese, der später 
vor allem Benjamin Constant Verbreitung gab; 
vgl. Jellinek, Recht des modernen Staates 1: 
288 ff). Nur ein großer Krieg aber, ist Hegel 
überzeugt, kann zu einer solchen Umgestaltung 
führen, die Deutschland wieder zu einem Staat 
macht, und zwar zu einem nationalen Staat, wie 
ihn Machiavelli für Italien ersehnte. 
Kurz nachher dürfte das gleichfalls von Mollat 
(s. unten Literatur) veröffentlichte „System der 
Sittlichkeit“ entstanden sein. Hegel erscheint hier 
durchaus unabhängig von Schelling, mit dem er 
sich sonst in dieser Zeit noch mannigfach berührt. 
Im Prinzip stimmt dasselbe völlig überein mit 
der späteren Lehre vom „objektiven Geist“. So 
sehr es seinen Einzelausführungen nach auch Um- 
änderungen durch die letztere erfahren hat, so ist 
es doch wie diese durch und durch beherrscht vom 
antiken Staatsgedanken und faßt wie diese die 
sittliche Wirklichkeit des Staatslebens auf als die 
Erscheinung des Göttlichen auf Erden. Das abs- 
trakte Recht und die Moralität sind hier noch 
nicht losgelöst von der Sittlichkeit, sondern in 
dieselbe noch verschlungen, wie die nachmaligen 
Formen des absoluten Geistes (Kunst, Religion, 
Philosophie) noch in ihr verschlungen liegen, so 
daß das sittliche Gesamtleben hier als die höchste 
Verwirklichung des absoluten Geistes erscheint. 
Der Staat ist das „System der Sittlichkeit“; in 
ihm geht alles auf, individuelle Sittlichkeit und 
Religion, Kunst und Wissenschaft. Dieses System 
gliedert sich in drei Teile. Der Organismus des 
sittlichen Lebens erscheint zunächst als eine bloß 
relative Identität, als bloßes „Verhältnis“ des 
Besondern und Allgemeinen in Besitz und Eigen- 
tum mittels der Bearbeitung der Natur, in 
Tausch und Vertrag, Herrschaft und Knechtschaft 
und der Familie als der Indifferenz der natür-
	        
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