Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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machen, so daß die herrschende Gewalt unmittel- 
bar auf die einzelnen stieß und drückte und die 
Beamtenwillkür ein durch keinerlei Damm ein- 
geengtes Spiel entfalten konnte (Philos. des Rechts 
§§ 290, 295/297). Hegel weiß auch die Fami- 
lienrechte, Eigentumsrechte und ständischen und 
gewerblichen Sonderrechte und ihre freie Betäti- 
gung sowie die freie Entwicklung der verschieden- 
artigen individuellen Anlagen und Strebungen 
gegenüber einer alles nivellierenden Gleichmacherei 
(d. a. O. 8§ 200) sowie gegenüber einer unbeding- 
ten, alles atomisierenden Gewerbefreiheit (d. a. O. 
§ 236) und einer ihr entstammenden Unterdrückung 
und Behinderung gewerblicher Genossenschaften 
(a. a. O. §§ 250/260) sattsam zu würdigen. 
Mit vollem Grunde ist er ferner im Gebiete 
des Staatsrechts für Vernünftigkeit und ver- 
nünftige Freiheit als das wahrhafte Ziel einge- 
standen gegenüber einer sensualistischen Nützlich- 
keits= und Wohlfahrtslehre, und mit vollem 
Grunde auch der Rousseauschen Lehre von der 
Volkssouveränität als Quelle aller Gewalten wie 
der alles Staatsrecht prinzipiell in Privatrecht auf- 
lösenden Restaurationslehre Hallers (s. d. Art.) 
gegenübergetreten. Auf einsichts= und verdienst- 
volle Weise hat er im Gebiete des Strafrechts den 
Begriff der Wiedervergeltung als bestimmenden 
Begriff an die Spitze gestellt und der oberfläch- 
lichen Abschreckungstheorie Feuerbachs gegenüber 
geltend gemacht und die Todesstrafe Beccaria (s. d. 
Art.) gegenüber wieder in ihr Recht eingesetzt (a. a. 
O. 8 100). In begründeter Weise ist er auch gegen 
eine bloße subjektive Moral der edeln Absicht, die 
sich in alles legen kann, und gegen eine Moral 
der für alles mögliche sich einsetzenden Gefühls- 
begeisterung oder der über alle geheiligten Schran- 
ken und Ordnungen sich hinwegsetzenden Genialität 
für objektive Gesetzlichkeit, Zucht und Sittlichkeit 
eingetreten. 
Die Hegelsche Philosophie hat zu ihrem Prin- 
zip das unbestimmte Sein, welches als an sich 
seiender Geist durch die vorweltlichen logischen 
Kategorien und die endliche Welt hindurch zum 
an und für sich seienden, absoluten Geiste sich 
voranbestimmt; die Hegelsche Rechtsphilosophie 
insbesondere hat zu ihrem Prinzip die unbestimmte 
Freiheit, welche aus dem An-sich-sein des natür- 
lichen Einzelwillens zu der im Staate sich ver- 
wirklichenden allgemeinen Freiheit vor= und empor- 
schreitet. Wie die erstere ihrem Prinzip nach an 
überschwenglichem Idealismus, an einseitigem 
Logismus und an vernunftwidrigem Pan- 
theismus krankt, so auch die letztere. „Der 
Geist hat Wirklichkeit, und die Akzidenzen des- 
selben sind die Individuen“: das ist der Ausdruck 
jenes überschwenglichen Idealismus in der Rechts- 
philosophie (§ 156). Wie begreiflich erscheint so- 
mit nicht Hegels (übrigens bereits in seine Früh- 
zeit zurückreichende) große Vorliebe für den alles 
individuelle Leben in sich auflösenden antiken 
Staat? Sein Idealismus ist zugleich Logis- 
Hegel. 
  
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mus. Wie Anschauung, Empfindung, Vorstellung, 
Gefühl nur besondere Weisen des Denkens sind, 
so ist auch „der Wille nur eine besondere Weise 
des Denkens, das Denken als sich übersetzend ins 
Dasein“, und die mit Notwendigkeit sich voll- 
ziehende Dialektik dieses Willens ist „das Reich 
der verwirklichten Freiheit“: das ist der Ausdruck 
dieses Logismus innerhalb der Rechtsphilosophie 
(§4). Dieser Logismus ist zugleich Pantheismus. 
Der Staat ist seiner Idee nach „der wirkliche 
Gott“, „die sich wissende sittliche Wirklichkeit des 
Geistes“, „der göttliche Wille als gegenwärtiger, 
sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer 
Welt entfaltender Geist“: das ist der Ausdruck 
dieses Pantheismus innerhalb der Rechts- 
philosophie (6§ 258, 270). 
Dieser Grundirrtum bildet diefruchtbare Wurzel 
verschiedener weiterer Irrtümer. Einer derselben 
besteht darin, daß der Grundsatz: „Macht ist 
Recht“, in einer neuen, vergeistigten Weise zur 
Anwendung kommt. Nicht die physische Macht 
des Einzelwillens gilt hier als das Rechts= und 
Staatsbegründende, sondern die allgemeine Ge- 
dankenmacht, die Macht des aus dem Widerspruche 
der Einzelwillen sich herausbildenden und in ihnen 
sich manifestierenden allgemeinen Willens, der nur 
eine besondere Weise des Denkens ist. Der end- 
liche Einzelwille ist das Böse, zunächst als natür- 
liches, unbefangenes Böse erscheinend, dann zum 
bewußten Bösen sich steigernd. Er bildet ein zu 
Überwindendes, nicht Seinsollendes; nichtsdesto- 
weniger ist er notwendig, damit der allgemeine 
Wille zur Verwirklichung komme, und ist insofern 
etwas Gutes, Seinsollendes (Philos. des Rechts 
§5 139). Es werden von Hegel nicht wie von 
Fr. Baader (vgl. 1 532) und Schelling zweierlei 
Lebensprozesse der Kreatur unterschieden, ein ab- 
normer und ein normaler; das sich auswirkende 
Böse erscheint hier nicht als abnormer Lebens- 
prozeß der Kreatur, in einem konträren Gegen- 
satz stehend zum normalen Lebensprozesse der- 
selben; alles Endliche, Kreatürliche und folglich 
alles und jedes Kreaturleben ist vielmehr selber 
böse und nur die negative Seite in der Dia- 
lektik des Unendlichen, Absoluten. Recht ist also 
das geistig Mächtige, das sich behaupten kann im 
fortschreitenden Prozesse des Weltgeistes und der 
Weltgeschichte und Recht bleibt, solange es sich 
in demselben zu behaupten vermag. Unrecht ist 
das geistig Ohnmächtige, welches in diesem Pro- 
zesse zu einem verschwindenden Momente eines 
höheren Allgemeinen herabgesetzt wird und so sein 
Recht empfängt. 
Ein weiterer Irrtum, aus dem vorbezeichneten 
Grundirrtum sich von selber ergebend, ist dieser, 
daß es kein ideales Naturrecht gibt, zu 
welchem das, was als positives Recht sich geltend 
macht oder geltend gemacht wird, je in konträren 
Gegensatz treten könnte. Das ideale Naturrecht 
oder Vernunftrecht Hegels ist nur geistiges Macht- 
recht, das sich in den positiven Gesetzen zu einer
	        
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