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Hegel kennt also keine von der Rechts= und
Staatslehre unabhängige Ethik (Individual= und
Sozialethik). In den „Propädeutischen Vorlesun-
gen“ hat er allerdings die „Pflichtenlehre oder Mo-
ral“ in einer von der Rechts- und Staatslehre ab-
gesonderten Weise zur Darstellung gebracht (Werke
XVIII 53/74) und hat auch späterhin anerkannt,
daß die Sittlichkeit nicht nach jeder Beziehung hin
im Staate aufgehe; denn „die Staatsgesetze können
sich auf die Gesinnung nicht erstrecken wollen; im
Moralischen bin ich frei für mich selbst, und die
Gewalt hat hier keinen Sinn“; „die moralische
Seite und die moralischen Gebote, als welche den
Willen nach seiner eigensten Subjektivitärt und
Besonderheit betreffen, können nicht Gegenstand
der positiven Gesetzgebung sein“ (Philos. des Rechts
88 94. 213, 242). Wie die Sittlichkeit, sind auch
die Religion und Kirche selbständig und frei, so-
lange sie nur im Elemente des innerlichen Gefühls-,
Vorstellungs= und Glaubenslebens sich bewegen.
Sobald sie alle jedoch nach außen treten und in
dieser Welt der Sichtbarkeit sich irgendwie mani-
festieren, sobald insbesondere die Kirche eine autori-
tative Lehr= und Regierungsgewalt zu betätigen
und einen Kultus auszuüben beginnt, sind sie der
Oberherrlichkeit des Staates verfallen. Hiermit
wird nicht nur aller aktive Widerstand gegen die
Staatsgewalten als revolutionär gefaßt und be-
zeichnet, was ganz und gar begründet wäre, son-
dern auch aller passive Widerstand gegen staatliche
Gesetze und Verordnungen, welche das Gewissen
des einzelnen verletzen, selbst wenn sie an sich die
ungerechtesten, unsittlichsten, irreligiösesten wären,
weil die Kirche den Glauben repräsentiert und
der Staat das Wissen und die Wissenschaft, der
Glaube aber dem Wissen und der Wissenschaft
untergeordnet ist (I).
Die Methode des Hegelschen Systems auf
dem weiten Wege vom phänomenalen Sein des
sinnlichen Bewußtseins bis zum reinen Sein und
von diesem bis zur logischen Idee und durch das
Anderssein der Welt hindurch bis zum absoluten
Geiste leidet an vielen Willkürlichkeiten und ander-
wärtsher ausgenommenen, stillschweigenden Vor-
aussetzungen, wie teils aus den geschichtlichen
Wandlungen teils aus der Analyse des Systems
sich ergibt (vgl. Ad. Trendelenburg, Die logische
Frage in Hegels System [18431, und Al. Schmid,
Die Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Logik
(1858.). Das gleiche gilt auch von der Hegel-
schen Rechtsphilosophie. Die in ihr zur An-
wendung gebrachte dialektische Methode bringt
den Übelstand mit sich, daß manches eine ab-
strakte Behandlung erfahren muß, was noch von
andern Seiten her betrachtet werden muß, um
den vollen, konkreten, alle verschiedenen dialekti-
schen Momente oder Seiten eines Gegenstandes
umfassenden Begriff zu gewinnen. So kommt es,
daß Hegel oft Vorgriffe machen muß, um im
vorhinein schon auf die vollen Begriffe irgend
welcher Objekte hinzudeuten.
Hegel.
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Die dialektische Methode leidet außerdem auch
an mannigfaltigen willkürlichen Sprüngen, an un-
motivierter Aufnahme irgendwie vorausgesetzter,
nurscheinbar abgeleiteter Anschauungen usw. Aller-
dings will gar manches nicht a priori konstruiert
werden, z. B. nicht mit Fichte die Vervollkomm-=
nung der Paßpolizei (Werke VIII7 17); der Staat
ist nur seiner Idee nach, nicht seiner bistorischen
Erscheinung nach „das an und für sich ewige und
notwendige Sein des Geistes“; er ist „kein Kunst-
werk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre
der Willkür, des Zufalls und des Irrtums; übles
Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigu-
rieren“ (Philos. des Rechts § 258).
Doch auch die Hegelsche Konstruktion des bloß
ideellen Rechts und Staates leidet an vielen dia-
lektischen Gebrechen. In wie verschiedenem, ja
entgegengesetztem Sinne wird nicht, wie im Ge-
samtsysteme, so auch hier die dialektische Zauber-
formel: An-sich, Für-sich (Anderssein), An= und
Für-sich zur Anwendung gebracht! Vom Einzel-
willen als dem natürlichen An-sich wird hier aus-
gegangen und durch die Entzweiung des objektiv
allgemeinen Rechtswillens und des subjektiven
Einzelwillens zum an und für sich vernünf-
tigen Willen des sittlichen Gemeinwesens über-
gegangen. Schon diese die gesamte Architek-
tonik des Rechtssystems erzeugenden Übergänge
sind nichts weniger als die einzig möglichen,
notwendigen, ja mitunter von sehr geschraubter
Art, so daß manche von Natur aus zusammen-
gehörige Momente künstlich auseinandergerissen
werden. Manche Übergänge im einzelnen des
Rechtssystems kennzeichnen sich schon auf den ersten
Blick als künstliche, ja überaus künstliche, wie z. B.
der ÜUbergang vom Vertrag zum Unrecht, da es
doch gar manches Unrecht gibt, das kein Vertrags-
bruch ist; der Ubergang vom Verbrechen auf die
Moralität, von der Moralität auf die Familie,
von der gesetzgebenden und regierenden Gewalt
zur fürstlichen (d. a. O. § 273), während bald dar-
auf in gerade umgekehrter Weise die fürstliche Ge-
walt an die Spitze gestellt und die regierende und
die gesetzgebende dialektisch aus ihr abgeleitet wer-
den (a. a. O. 88§ 275 ff).
3. a) Was den Einzelinhalt betrifft, so
wird schon in der Lehre vom abstrakten oder for-
mellen Rechte ein falscher Personenbegriff zu-
grunde gelegt. Person ist nach Hegel wie nach
Kant nichts anderes als eine selbstbewußte, freie
Einzelheit, welcher der Leib zu eigen ist, als Eigen-
tum angehört (Philos. des Rechts 88 35, 40). Da-
nach wären die unmündigen Kinder lediglich
Sachen und keine Rechtspersonen mit unveräußer-
lichen Rechten, weil nicht aktuell selbstbewußt und
frei, und der Leib wäre nicht Bestandteil einer
Person, sondern ebenfalls nur Sache, was beides
nicht bloß unzureichend, sondern falsch ist. In-
folgedessen hat dann Hegel die dem römischen
Rechte zugrunde liegende Einteilung, in Personen-
und Sachenrecht verworfen (a. a. O. § 40)