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gerungen, daß nur durch eine nach monarchistischem
System organisierte Gesellschaft auch im religiös-
sittlichen Leben wahrhaft Großes zu erreichen sei.
Diese Idee fand zum erstenmal klaren Ausdruck bei
der Abfassung des Jahresberichtes der Christian
Mission; als ein Mitarbeiter die Worte nieder-
geschrieben hatte: Christian Mission is a vo-
lunteer army of converted working people
— da nahm Booth die Feder und ersetzte das die
Betätigungsart bezeichnende Wort volunteer durch
das das Betätigungszielfixierende Wortsalvation,
so daß nunmehr die Definition nicht mehr „Frei-
willigenarmee“, sondern „Heilsarmee“ lameete.
Hatten Booth und seine Frau bis jetzt ihre Auf-
merksamkeit der Psychologie des Kaufmannsstandes
zugewandt, indem sie den Gedanken zu realisieren
suchten, business principles seien auch bei reli-
giös-sittlicher Bekehrungsarbeit zu beobachten, so
strebte man jetzt bei der Reorganisation der Christ-
ian Mission auch der Psychologie des Soldaten-
standes gerecht zu werden. An der Hand von mili-
tärischen Schriften der englischen Armee, besonders
auf Grundlage des Soldatentaschenbuches des Ge-
nerals Wolseley, arbeitete Booth Orders and Re-
gulations für sein Werk aus: die Heeresorgani-
sation mit ihren Abstufungen der einzelnen Stel-
lungen, auch äußerlich durch die Kleidung kenntlich
gemacht, die Reglung der gesamten Tätigkeit bis
in alle Einzelheiten durch bestimmte Verordnungen,
die Harmonie des Ganzen und der Abteilungen,
wie sie das Wesen einer jeden auf der Grundlage
der Autorität aufgebauten Organisation ausmachen
— das sollte zum Ausdruck kommen. Im Jahre
1880 erschienen zuerst Heilssoldaten (Salutisten)
in der eigenartigen, der militärischen Uniform nach-
gebildeten Bekleidungsart. Bis zum Jahre 1884
hatte die Bewegung bereits einen Umfang ge-
wonnen, daß der „Kriegsruf“ in einer Auflage von
1400000 Exemplaren erschien, und die Geldsamm-
lungen für die Zwecke der Heilsarmee erreichten
jährlich bereits eine Höhe von 8 Mill. Jl. Als
1890 das 25jährige Jubiläum des Werkes in den
riesigen Räumen des Kristallpalastes in London
gefeiert wurde, sollen 70/80 000 Menschen mit
der Eisenbahn nach London gekommen sein.
Will man die Heilsarmee richtig verstehen, so
muß man festhalten, daß bis zum Jahre 1890 die
religiöse Erweckungsarbeit ganz im Vordergrunde
der Bestrebungen stand; vom Jahre 1890 ab tritt
aber die soziale Wohlfahrtsarbeit immer mehr in
den Brennpunkt des Interesses. Eine neue Ara-
des Wirkens begann mit dem Erscheinen des Buches
von Booth: In the darkest England and the
Way out, welches in zwei Teile zerfällt: 1. Schil-
derung des Elendes, 2. Hilfe durch Kolonien,
und zwar durch a) Obdachlosenasyle (Elevatoren),
b) Farmkolonien, c) Überseekolonien. Booth er-
strebt die Heilung von Laster und Armut durch
Verbindung von sittlicher Hebung mit ma-
terieller Förderung; man begnügt sich nicht
allein mit augenblicklicher Unterstützung, sondern.
Heilsarmee.
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erstrebt dauernde Hilfe durch Beseitigung der Quel-
len des Ubels. Die Hauptsorge wendet man den
untersten Volksklassen, der Hefe des Volkes zu, den-
jenigen, welche sich nicht mehr selbst helfen können.
Besonders ist es der Kampf gegen Trunksucht, ge-
schlechtliche Unsittlichkeit und Arbeitslosigkeit, wel-
chen die Heilsarmee auf ihre Fahne geschrieben hat.
Wenn man die Tätigkeit aber gerecht würdigen
will, so muß man die äußere Erscheinungsform von
den inneren psychologischen Beweggründen der Be-
tätigungsart unterscheiden. Die Wirksamkeit des
geschichtlich gewordenen Christentums schätzt die
Heilsarmee sehr gering ein und begründet ihre An-
sicht damit, daß man sich um die „Verkommenen“
nicht genügend gekümmert habe; man habe das
Bild vom guten Hirten zu wenig beachtet und sei
den Verirrten zu wenig nachgegangen, das Christen-
tum sei zu wenig aggressiv gewesen. Und doch habe
der Heiland nicht gesagt: Gehet hin und bauet
Kirchen und wartet dort, bis die Leute zu euch
kommen, sondern: Laufet den Verlorenen nach,
suchet sie auf und predigt ihnen das Evangelium!
Ein Hungriger sei aber ein undankbarer Hörer des
Wortes Gottes. Deshalb solle man dem Armen
zuerst etwas zu essen geben und dann erst ihm
von Gott sprechen. Aus diesem Gedankengang
und dem daraus hervorgehenden Streben nach An-
passung an den Geschmack des Volkes ist die ganze
Eigenart des sonderbaren, reklameartigen Auf-
tretens der Heilsarmee zu erklären. Daß diese
Form des Vorgehens die gebildeten Kreise vielfach
abstößt, ist aus zwei Momenten zu erklären, weil
einerseits die Methode der Beeinflussung eben nur
auf die Instinkte der alleruntersten Volksklassen be-
rechnet ist und anderseits die Erweckungsarbeit auch
von Leuten dieser Klasse geleistet wird. Das Rätsel
des Erfolges dürfte in der Kombination von drei
Momenten liegen, nämlich der aggressiven Werbe-
tätigkeit, der auf Belebung der Aktivität hinzielen-
den Suggestionsmethode in den Versammlungen
und der Sozialarbeit. Von großer Bedeutung für
das Sozialwerk ist die Sittenlehre der Heilsarmee:
völlige Enthaltung von allen berauschenden Ge-
tränken ist strenge Pflicht aller Anhänger der Heils-
armee. Als Rückfälliger ist zu betrachten jeder, der
nur einmal Alkohol genießt. Die Offiziere müssen
auch auf den Tabak in jeder Form verzichten.
Jeglicher Luxus durch Befolgen der Mode, Aus-
putzen der Kleider, Flitter ist verboten. Ebenso ist
die Beteiligung an irgendwelchen weltlichen Ver-
gnügungen, Besuch von Theater, Konzerten, Bällen
untersagt. In den Vorschriften der Heilsarmee ist
der Zusammenhang zwischen Ethik und Hygiene
besonders scharf im Auge gehalten. Eine interessante
Einrichtung ist die Selbstverleugnungswoche, in-
dem jeder Salutist im Jahre eine Woche lang auf
irgend eine erlaubte Liebhaberei, deren Ausschal-
tung aus der Lebensordnung ihm besonderes schwer
wird, verzichten und das dadurch Ersparte für
einen wohltätigen Zweck verwenden soll. In dem
Verkehr mit seinen Mitmenschen soll der Salutift