Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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dem Bundesgesetz über die Freizügigkeit vom 
1. Nov. 1867 § 1: „Jeder Bundesangehörige 
hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes an 
jedem Orte sich aufzuhalten oder niederzulassen, 
wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen 
sich zu verschaffen imstande ist“; dann in der Ge- 
werbeordnung § 1 ff, welche den für Deutsche un- 
beschränkten Grundsatz an die Spitze stellt: „Der 
Betrieb eines Gewerbes ist jedermann gestattet, 
soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen oder 
Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen 
sind“, und endlich in dem Bundes-(jetzt Reichs-) 
Gesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 
1870, neue Fassung mit einer Reihe von Abände- 
rungen vom 30. Mai 1908, bzw. den zu diesem 
Gesetz in den Einzelstaaten ergangenen Aus- 
führungsgesetzen. Das Unterstützungswohnsitzgesetz 
sagt in § 1: „Jeder Deutsche ist in jedem Bundes- 
staat in Bezug a) auf die Art und das Maß der 
im Falle der Hilfsbedürftigkeit zu gewährenden 
öffentlichen Unterstützung, b) auf den Erwerb und 
Verlust des Unterstützungswohnsitzes als Inländer 
zu behandeln.“ Das Maß der öffentlichen Unter- 
stützung zu bestimmen, ist der Landesgesetzgebung 
überlassen. So z. B. sagt § 1 des preußischen 
Ausführungsgesetzes vom 8. März 1871: „Jedem 
hilfsbedürftigen Deutschen ist von dem zu seiner 
Unterstützung verpflichteten Armenverbande Ob- 
dach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die er- 
forderliche Pflege in Krankheitsfällen und im Falle 
des Ablebens ein angemessenes Begräbnis zu ge- 
währen.“ Das Reich gewährleistet den in ihm 
Heimatberechtigten diese Armenunterstützung zu- 
nächst durch die Anordnung von Ortsarmenver- 
bänden, dann durch die von Landarmenverbänden. 
Zur Entscheidung von Streitigkeiten aus dem 
Unterstützungswohnsitzgesetz in letzter Instanz ist 
das Bundesamt für das Heimatswesen in Berlin 
errichtet. 
Das Heimatsrecht in der Gemeinde, soweit 
es das Recht zur Niederlassung und zum freien 
Gewerbebetrieb gewähren soll, braucht nach den 
angeführten Grundsätzen des Freizügigkeitsgesetzes 
und der Gewerbeordnung für alle Deutschen nicht 
besonders erworben zu werden. Dagegen bedarf 
es der Erfüllung besonderer Bedingungen für den 
Erwerb des Rechts auf Armenunterstützung in 
einer bestimmten Gemeinde, welche enthalten sind 
in dem Unterstützungswohnsitzgesetz. Der Erwerb 
dieses Heimatsrechts ist beschränkt auf Deutsche. 
Nichtdeutsche erwerben auch durch noch so langen 
Aufenthalt kein festes Recht auf Aufenthalt und 
Gewerbebetrieb, können vielmehr stets ausgewiesen 
werden. Eine öffentliche Armenunterstützung steht 
Ausländern nur „vorläufig“ zu und weiter nur, 
soweit sie ihnen durch Vertrag mit ihrem Heimat- 
staat verbürgt ist. In Preußen wird jeder Aus- 
länder, solange ihm der Aufenthalt gestattet wird, 
sowohl in Bezug auf die Unterstützung wie in 
Bezug auf den Erwerb und den Verlust des Unter- 
stützungswohnsitzes einem Deutschen gleichbehan- 
Heimat ufw. 
  
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delt. Das Recht auf Armenunterstützung wird 
nach dem Unterstützungswohnsitzgesetz für Deut- 
sche (mit Ausnahme von Bayern, s. unten) er- 
worben durch Abstammung, Verehelichung und 
einjährigen Aufenthalt. Für Personen, die an 
einem Orte mindestens eine Woche hindurch gegen 
Lohn oder Gehalt gearbeitet haben, muß, wenn 
sie während der Fortdauer des Dienst= oder Ar- 
beitsverhältnisses oder innerhalb einer Woche nach 
seiner Beendigung erkranken, der Ortsarmenver- 
band des Dienst= oder Arbeitsortes 26 Wochen 
lang die Kosten der Kur und Verpflegung tragen; 
danach tritt der Ortsarmenverband des Unter- 
stützungswohnsitzes ein. Das Recht auf Armen- 
unterstützung wird verloren durch Erwerb eines 
andern Unterstützungswohnsitzes und durch ein- 
jährige Abwesenheit. Auf Grund dieser letzten 
Bestimmung kann es auch hier vorkommen, daß 
jemand seinen Unterstützungswohnsitz in einer Ge- 
meinde verliert, ohne einen andern zu erwerben, 
also in diesem Sinne heimatlos wird. Er verliert 
damit das Recht auf Armenunterstützung gegen 
eine bestimmte Gemeinde, nicht aber gegen den 
Staat; das Gesetz nennt solche heimatlose Deutsche 
„Landarme“ und überträgt die staatliche Pflicht 
der Armenunterstützung für sie auf kleinere Kom- 
munalverbände, die sog. Landarmenverbände (ogl. 
d. Art. Unterstützungswohnsitz). 
1. Einer besondern Besprechung bedarf das 
Heimatsrecht in Bayern. Während nämlich 
unter dem Einfluß der preußischen Gesetzgebung 
im größten Teile des übrigen Deutschlands das 
Recht auf Armenunterstützung sich immer mehr 
losgelöst hatte von der Ursprungsgemeinde und 
übertragen worden war auf die Aufenthalts- 
gemeinde, hatte Bayern an dem älteren Grundsatz 
festgehalten und denselben sogar kurz vor Grün- 
dung des neuen Deutschen Reiches durch die Ge- 
setze über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt 
vom 15. April 1868 und über die öffentliche 
Armen= und Krankenpflege vom 29. April 1869 
für ganz Bayern neu und einheitlich entwickelt. 
Mit Rücksicht darauf behielt sich Bayern in dem 
Vertrage vom 23. Nov. 1870 betreffend den Bei- 
tritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen 
Bundes (Abschn. III, 8 1) sowie in dem Schluß- 
protokoll zu diesem Vertrag (Art. I/III) die selb- 
ständige Reglung der Heimats-, Niederlassungs- 
und Verehelichungsverhältnisse, letztere soweit sie 
mit den ersteren zusammenhängen, als Sonderrecht 
vor. Art. 4 der Verfassung des Deutschen Reiches 
bestimmt dementsprechend: „Der Beaufsichtigung 
seitens des Reiches und der Gesetzgebung desselben 
unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten: 
1) Die Bestimmungen über Freizügigkeit, Hei- 
mats= und Niederlassungsverhältnisse. Staats- 
bürgerrecht . in Bayern jedoch mit Ausschluß der 
Heimats= und Niederlassungsverhältnisse.“ In-= 
folgedessen wurden das Norddeutsche Bundesgesetz 
vom 4. Mai 1868, betreffend die Aufhebung der 
polizeilichen Beschränkungen der Eheschließungen,
	        
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