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Vizepräsidenten werden gewählt. Die Zweite
Kammer bilden 10 von den mit besonderem Wahl-
recht begabten Städten und 40 (17 aus Starken-
burg, 13 aus Ober= und 10 aus Rheinhessen)
von den Wahlbezirken auf 6 Jahre indirekt ge-
wählte (im ganzen also 50) Abgeordnete, deren
Hälfte in dreijährigem Turnus austritt (Wahl-
gesetz vom 8. Nov. 1872 und 6. Juni 1885).
Zur Wahlberechtigung (Zensus) wie zur Wähl-
barkeit ist das 25. Lebensjahr erforderlich. Stimm-
berechtigt als Urwähler ist jeder Staatsbürger
(Inländer, der 3 Jahre in Hessen wohnt und den
Verfassungseid geleistet hat), der Staats= und
Kommunalsteuer zahlt und mit deren Entrichtung
nicht länger als 2 Monate im Rückstande ist.
Wählbar zum Wahlmann sind stimmberechtigte
Urwähler, die an direkten Staatssteuern mindestens
den einem Normalsteuerkapital von 80 M ent-
sprechenden Betrag für eigentümliches oder nutz-
nießliches Vermögen jährlich entrichten. Wählbar
zum Abgeordneten sind alle stimmberechtigten Ur-
wähler. Ausgeschlossen sind von der Wählbarkeit
die Justiz= und Verwaltungsbeamten, die aus der
Staatskasse besoldet werden, für Stadt= oder
Wahlbezirke, die ganz oder zum größten Teil zu
ihrem Amtsbezirk gehören. Die Zweite Kammer
wählt ihre Präsidenten selbst; die nicht in Darm-
stadt ansässigen Mitglieder beziehen 9 M Diäten.
Eine Umgestaltung des Wahlrechts auf direkter
Grundlage ist schon seit 1901 in Aussicht genom-
men. Die verschiedenen Entwürfe (bis 1909: 4)
sind jedoch stets am Widerstand der Ersten Kam-
mer gescheitert, die gesetzgeberische und budgetäre
Vorrechte beansprucht. Nach dem Entwurf von
1909 soll die Erste Kammer auch einzelne Posten
des Etats (nicht nur den Etat im ganzen) abzu-
lehnen das Recht haben. Bei Gegensätzen in der
Stellungnahme zu einzelnen Posten soll einer
Durchstimmung der beiden Kammern die letzte
Entscheidung anvertraut werden. Eine Regierungs-
vorlage soll nur mit Zweidrittelmajorität einer
Kammer abgelehnt werden können. Die Erste
Kammer soll durch je zwei Vertreter der Land-
wirtschaft, der Industrie und des Handels sowie
einen Vertreter des Handwerks erweitert werden,
die Zweite Kammer 15 städtische und 48 ländliche
Abgeordnete erhalten. Wenn beim ersten Wahl-
gang ein Kandidat nicht die Hälfte der abgegebenen
gültigen Stimmen erhält, soll im zweiten Wahl-
gang gewählt sein, der die meisten Stimmen auf
sich vereinigt.
An der Spitze der Staatsverwaltung steht das
Staatsministerium. Es besteht aus dem Vor-
sitenden, dem Staatsminister, der gleichzeitig
Minister des großherzoglichen Hauses und des
Außern ist, den Vorständen (Ministern) und Rä-
ten der drei Einzelministerien und einem für das
Staatsministerium besonders angestellten Rat. Die
drei Einzelministerien sind: das Ministerium des
Innern mit 3 Abteilungen: a) Schulangelegen-
heiten, b) öffentliche Gesundheitspflege, c) Land-
Hessen.
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wirtschaft, Handel und Gewerbe; das Ministerium
der Justiz; das Ministerium der Finanzen mit
4 Abteilungen: a) Forst= und Kameralverwaltung,
b) Steuerwesen, c) staatliches Bauwesen, d) Fi-
nanzwirtschaft und Eisenbahnen. Dem Landes-
herrn unmittelbar untergeordnet ist die Oberrech-
nungskammer. Der Staatsminister haftet für die
genaue Beobachtung der Verfassung. Beruft sich
ein Minister auf angebliche Befehle des Groß-
herzogs, so kann dieser Versetzung des Ministers
in den Anklagezustand verfügen. Zuständig zur
Aburteilung ist dann das oberste Landesgericht.
Hessen zerfällt in 3 Provinzen, Oberhessen,
Rheinhessen und Starkenburg, und in 18 Kreise
7 in Starkenburg, 6 in Ober-, 5 in Rheinhessen).
Verwaltungs= und Polizeibehörde des Kreises ist
das Kreisamt unter dem Kreisrat (Einzelbeamter).
Die Kreisämter unterstehen den direkt vom Mini-
sterium des Innern abhängigen Provinzialdirek-=
tionen (unter einem Provinzialdirektor), als welche
die Kreisämter in den 3 Provinzialhauptstädten
(Darmstadt, Gießen und Mainz) fungieren. Unter
den Kreisämtern stehen die Großherzoglichen Po-
lizeibehörden in den größeren Städten und die
Bürgermeister in den Gemeinden als Träger der
öffentlichen Polizeigewalt. — Jeder Kreis und
jede Provinz bildet gleichzeitig einen Verband für
die Selbstverwaltung; Vertretungen sind die
Kreistage, deren (15—24) Mitglieder zu ½ von
den 50 Höchstbesteuerten, zu /8 von Bevollmäch-
tigten der Gemeindevorstände, und die Provinzial-
tage, deren Mitglieder (ein Abgeordneter auf je
10000 Seelen) von den Kreistagen auf sechs
Jahre gewählt werden (Gesetz vom 12. Juni
1874). — Vom Kreistag gewählt werden die
7 Mitglieder des Kreisausschusses (mit Ausnahme
des Kreisrats, der den Vorsitz führt). Dieser ist
Organ des Kreisverbandes (gleichsam ständige
Kommission des Kreistages), ferner staatliche Auf-
sichtsbehörde mit Polizeibefugnissen und Verwal-
tungsgericht. Beschwerdeinstanz gegen Beschlüsse
des Kreisausschusses ist der Provinzialausschuß
(8 Mitglieder), vor den aber auch wichtigere Ver-
waltungssachen in erster Instanz gehören. Letzte
Instanz ist je nach der Eigenart des Falles das
Ministerium des Innern oder der Verwaltungs-
gerichtshof.
Die Städteordnung (vom 12. Juni 1874) gilt
für alle Gemeinden mit 10 000 und mehr Ein-
wohnern, für Gemeinden von 3000 Seelen nur
auf Beschluß der Gemeindevertretung mit groß-
herzoglicher Genehmigung; die Landgemeinde-
ordnung (von 1874, abgeändert 1885 und 1908)
für alle übrigen Gemeinden. Städte und Land-
gemeinden weichen aber in ihrer verwaltungsrecht-
lichen Grundlage nur in wenigen Punkten von-
einander ab (z. B. Kompetenz des Bürgermeisters).
Es besteht das sog. französische System, d. h. der
Stadtvorstand ist keine Kollegialbehörde (Bürger-
meister und Stadträte), sondern die Magistrats-
geschäfte werden von einem Einzelbeamten (Bürger-