1237
hinausgehen und auch Invaliden-, Witwen= und
Waisen= sowie Arbeitslosigkeitsversicherung ge-
währen. Von wesentlicher Bedeutung für die Stel-
lung der Hilfskassen ist ferner die Bestimmung des
Krankenversicherungsgesetzes (8 75), die besagt, daß
die Mitglieder einer Hilfskasse von der Verpflich-
tung, einer Zwangskasse anzugehören, befreit sind,
wenn die betreffende freie Hilfskasse die Mindest-
leistungen der Gemeindekrankenversicherung ge-
währt. Es lassen sich also vier Arten von Hilfs-
kassen unterscheiden: dem Reichsrecht unterstehende
(eingeschriebene) freie Hilfskassen mit oder ohne die
Mindestleistungen der Gemeindekrankenversiche-
rung und dem Landesrecht unterstehende (nicht
eingeschriebene) freie Hilfskassen mit oder ohne diese
Mindestleistungen. Die eingeschriebenen Hilfs-
kassen zeigten auch nach dem Inkrafttreten der
Sozialversicherung eine nicht ungünstige Entwick-
lung, obgleich ihre Mitglieder die gesamten Bei-
träge allein aufbringen müssen, die Arbeitgeber
keine solchen zu leisten haben. Allerdings weisen
die Hilfskassen zufolge der Auswahl ihrer Mit-
glieder nach Gesundheit und Alter auch keine so
hohe Belastung auf wie die Zwangskassen. Neben
gewissen Annehmlichkeiten, wie Selbstverwaltung,
freie Arztewahl u. dgl., haben verschiedentlich auch
parteipolitische Gründe die Entwicklung gefördert.
Die Novelle zum Krankengesetz 1892 hat jedoch
den Wettbewerb der eingeschriebenen Hilfskassen
mit den Zwangskassen wesentlich erschwert. Wäh-
rend die Hilfskassen früher statt freier ärztlicher
Behandlung und Arznei in natura ein erhöhtes
Krankengeld verabreichen durften, genügt dieses
jetzt nur bei solchen Mitgliedern, die gleichzeitig
der Hilfskasse und einer Zwangskasse angehören,
freien Arzt und Arznei also schon aus der letzteren
erhalten. Von den dem Privatversicherungs-
gesetz vom 12. Mai 1901 unterstellten Ver-
sicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sind die ein-
geschriebenen Hilfskassen ausdrücklich ausgenom-
men (§ 122).
Die Hilfskassen haben sowohl durch ihre Lei-
stungen als insbesondere auch für die Erziehung
der Arbeiter zur Selbstverwaltung segensreich ge-
wirkt. Als Zuschußkassen behaupten sie auch noch
neben den gesetzlichen Zwangskassen ihre volle Be-
rechtigung und Bedeutung. Ihre Berechtigung
als Ersatzkassen der Zwangs-(Orts-, Innungs-,
Betriebs-)Kassen erfuhr allerdings vielfach An-
fechtung, indem sie beschuldigt werden, daß sie
einerseits vielfach der Sozialdemokratie Vorschub
leisteten, daß sie anderseits den Zwangskassen die
schlechteren Risiken überließen, während sie selbst
nur die jüngeren und gesunderen Arbeiter auf-
nähmen. Dazu kommt, daß vielfach in betrü-
gerischer Absicht solche Kassen errichtet werden,
die durch schwindelhafte Versprechungen, z. B.
unter Hinweis auf die „Obrigkeitliche Geneh-
migung“, anlocken und dann durch hohe Gründer-
spesen, durch Anstellung hochbezahlter Beamten,
durch leichtsinnige Verwaltung bald Bankrott
Hilfskassen.
1238
machen oder aber durch verklausulierte Bedingungen
die Mitglieder um ihre Ansprüche bringen.
Die Regierung verschloß sich nicht der Erkennt-
nis, daß eine Umgestaltung des Hilfskassengesetzes
erforderlich sei. Ende Nov. 1905 ging dem Reichs-
tag ein diesbezüglicher Entwurf zu, der auch zur
Beratung in einer Kommission gelangte. Auf
deren Anregungen nimmt ein nach der Reichstags-
auflösung vom Dez. 1906 dem neuen Reichstag
Anfang Mai 1907 vorgelegter zweiter Regierungs-
entwurf Rücksicht. Der im April 1909 veröffent-
lichte Entwurf einer Reichsversicherungsordnung
will bestehende, im Sinn des § 75 des Kranken-
versicherungsgesetzes zugelassene Hilfskassen nach
wie vor anerkennen, neue solche Kassen aber nicht
mehr zulassen. Die Zugehörigkeit der Arbeiter zu
einer Hilfskasse soll den Arbeitgeber nicht mehr
von der Anmelde= und Beitragspflicht zur zu-
ständigen Pflichtkasse befreien, sondern nur be-
wirken, daß die Versicherten keine Rechte und
Pflichten gegen die Pflichtkasse haben. Innerhalb
des Rahmens ihres satzungsgemäßen Mitglieder-
kreises sollen die Hilfskassen aufnahmepflichtig sein,
also den Beitritt nicht von Lebensalter, Gesund-
heitszustand oder Geschlecht abhängig machen
dürfen. Die Leistungen müssen den Regelleistungen
der Krankenkassen mindestens gleichkommen, die
Mitgliederzahl muß mindestens 1000 betragen.
In Österreich-Ungarrn bestehen gleichfalls
„egistrierte Hilfskassen“, deren geschichtliche Ent-
wicklung und rechtliche Grundlage (Gesetz vom
16. Juli 1892) den deutschen Verhältnissen ver-
wandt ist. Ihre Ausdehnung ist jedoch gering.
In England sind die Hilfskassen (Friendly
Societies) die Hauptträger der Arbeiterversiche-
rung und von großer sozialer und politischer Be-
deutung. Auch in Frankreich ist auf den So-
ciétécs de secours mutuels ein wesentlicher
Teil der Sozialversicherung aufgebaut.
Die Entwicklung der dem § 75 des Krankenver-
sicherungsgesetzes entsprechenden Hilfskassen zeigt
folgende Statistik. Es bestanden:
Eingeschriebene Landesrechtliche
Jah Hilfskassen Hilfskassen
ahr
Kassen Versicherte Kassen Versicherte
1885 1805 730 7272 474 143 785
1890 1836 814 455 461 144 668
1900 1451 846 110 236 45 587
1906 1339 884 144 155 36 405
1906 waren rund 6% aller Kassen, durch deren
Mitgliedschaft der Versicherungspflicht genügt wird,
Hilfskassen und rund 8% der Versicherten bei ihnen
versichert.
Literatur. Hahn, Kommentar zum H #esetz
(1896); die verschiedenen Kommentare zum Kran-
kenversicherungsgesetz; Honigmann, Art. „H.“ im
Handwörterb. der Staatswissenschaften IV (21900);
Manes, Art. „H.“ im Wörterbuch der Volkswirt-
schaft II (21907); Stier-Somlo, Deutsche Sozial-
gesetzgebung I (1906); ders., Recht der Arbeiter-
versicherung (1906); Leyers, Die H. in Gegenwart
u. Zukunft (1908; dort auch weitere Literatur). —