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geteilt. Die adlige Natur Jarckes hatte ihn über die
Abgründe des Studentenlebens narbenlos hinweg-
getragen. Er verbrachte seine Erholungsstunden
in einem Kreise gleichgesinnter Freunde. Eines
Abends wiederholte einer derselben aus Casanovas
Memeoiren die Anschauung, daß über jedem Men-
schen eine Vorsehung oder ein Schicksal walte; er
fügte hinzu, daß er es sich von Herzen wünsche,
von einer Vorsehung geleitet zu werden. Jarcke
meinte nachdenklich, daß, wenn es überhaupt ein
göttliches Wesen gebe, dieses ein lebendiger Gott
sein müsse, der für uns sorge. Das Gespräch des
Tisches nahm damit zum erstenmal eine religiöse
Wendung. Ein dritter erinnerte sich aus Neanders
Berliner Vorlesungen, daß das Christentum seinen
Gott diese Sorge um uns bis zur eigenen Mensch-
werdung treiben lasse, und Jarcke erfuhr erst durch
diese Worte von dem Grundgeheimnis, dem Mit-
telpunkte des ganzen Christentums. Aber sofort
füllte es ihm die ganze Seele aus; diese Lehre
konnte, so schien es ihm, nicht von Menschen-
verstand erfunden sein, ihre Voraussetzung war
die göttliche Tat; die Geschichte des Christentums
mußte dafür Bürgschaft leisten. Er studierte die
Augsburgische Konfession und die Beschlüsse des
Tridentinischen Konzils. Dort erlabte ihn die
Quellfrische der Sprache, hier überwältigte ihn
die wahrhaft überzeugende Geschlossenheit und
Monumentalität des Lehrinhalts. Von nun ab
rang er um die völlige Erkenntnis, unterstützt auch
durch seine Fachwissenschaft, die Betrachtung von
Gut und Böse, von Ubeltat und Strafe, und durch
die Psychologie des Verbrechens. Vom Winter-
semester 1822 an las er in Bonn als Privatdozent
Strafrecht; schon im Frühjahre darauf erhielt er
den Rang eines außerordentlichen Professors. Die
Klarheit der Gedanken, die Schärfe seiner Logik,
der fesselnde Vortrag machten ihn den Hörern lieb.
Ein Jahr später nahm er Urlaub, um sich in der
Schwurgerichtspraxis umzuschauen. In denselben
Tagen legte er in Köln das katholische Glaubens-
bekenntnis ab. Die innige Berührung mit dem
tiefgläubigen Bonner Philosophen Windischmann
hatte ihm den Kampf erleichtert, ihn durch Ge-
bet und in wachsender Wärme und Weichheit
der Stimmung zum Entschlusse der Unterwerfung
gebracht.
Sein Leben ging zunächst trotz des religiösen
Umschwungs ruhig in den alten Bahnen weiter.
Auf Urlaub in Köln wurde er der Freund und
Mitarbeiter des berühmten Strafrechtlers Hitzig;
im Herbst 1825 rief ihn das Ministerium an die
Berliner Hochschule. Hier heiratete er im Winter
darauf Katharina Kanth; die Lebensbeziehungen
zu Phillips knüpften sich. Bis 1831 arbeitete er
unermüdlich und in strenger Sammlung in seinem
Fache: der Hauptertrag dieser Jahre sind die mit
großem Beifall ausgenommenen drei ersten Bände
eines Handbuchs des gemeinen deutschen Straf-
rechts mit Rücksicht auf die Bestimmungen der
preußischen, österreichischen, bayrischen und fran-
Jarcke.
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zösischen Strafgesetzgebung (Berlin 1827/30). Nur
die ganz religiöse Beurteilung der Grundlagen des
menschlichen Tuns und die Folgerungen daraus
verraten, was den Menschen Jarcke kurz zuvor
umgewandelt hatte. Das Religiöse drängt sich
aber weder vor, noch zeigt es sich angriffs-
lustig. Und so blieb es noch beinahe ein weiteres
Jahrzehnt.
Im Frühjahr 1832 wurde Jarcke in das preu-
Kische Justizministerium zur Teilnahme an der
geplanten Fortbildung der Strafrechtsgesetzgebung
berufen. Inzwischen aber hatte er schon den Über-
gang von der stillen sachlichen Arbeit des Straf-
rechtsgelehrten zu der aufregenden Tätigkeit des
in fremdem Dienste stehenden Politikers vollzogen.
Die Vertreibung der Bourbonen durch die Juli-
revolution von 1830 und ihre Ersetzung durch den
Bürgerkönig hatte auch die Berliner politischen
Kreise in die lebhafteste Unruhe versetzt. Jarcke
ließ 1831 anonym eine Broschüre über „die fran-
zösische Revolution von 1830“ erscheinen. Ihre
geistvollen geschichtlichen Erörterungen, ihre warme
preußische Gesinnung machten den Verfasser, der
infolge seiner Konversion bisher in Berlin nicht
gut aufgenommen worden war, sofort zu einem
Mittelpunkt in der Gruppe geistreicher, konservativ
gesinnter Männer, die sich in Berlin um die Ge-
brüder v. Gerlach gesammelt hatten. Dort befreun-
dete er sich mit Radowitz. Man veranlaßte ihn im
Herbst 1831, das „Politische Wochenblatt“ als
Organ aller Antirevolutionäre zu gründen. Das
neue Blatt wurde in den aristokratischen und Be-
amtenkreisen bis hinauf zur Königsfamilie mit
großem Beifall gelesen. Sofort wurde auch Met-
ternich auf den Herausgeber aufmerksam und be-
rief ihn schon im Herbst 1832 als Nachfolger von
Gentz nach Wien in die Staatskanzlei.
Seitdem ist Jarcke Journalist geblieben bis zum
Ende seines Lebens. Bis 1837 teilte sich seine
Schriftstellerei noch zwischen dem „Politischen
Wochenblatt“ und der Staatskanzlei. Erst das
Kölner Ereignis schied ihn von dem „Politischen
Wochenblatt“, da die Leitung desselben Jarckes
Wunsch nicht beachtete, in Würdigung der ver-
schiedenen Urteilsweise der Mitarbeiter das Ver-
halten der preußischen Regierung, wenn nicht zu
verurteilen, so doch mit Stillschweigen zu über-
gehen. Er gründete 1838 mit seinem Freunde
Phillips zur Verteidigung der katholischen An-
schauungen die „Historisch-politischen Blätter“, in
denen er von nun ab seine staatstheoretischen An-
sichten und seine kritisierenden Meinungen über
die Zeitläufe niederlegte. Man hielt dafür, daß
seine Ansichten einen großen Einfluß auf den lei-
tenden bayrischen Staatsmann Abel ausübten.
Einige Jahre hindurch leitete er auch die wissen-
schaftliche Erziehung des Prinzen von Nassau;
auch die des zukünftigen badischen Großherzogs
Friedrich sollte ihm übertragen werden, doch ver-
hinderte es aus konfessionellem Grunde der ba-
dische Gesandte in Wien.