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Jarcke im modernen Staate. Er setzt eine vorgeb-
liche Staatsnotwendigkeit vor das Recht des ein-
zelnen; er ist von Natur aus machiavellistisch, die
faktische Gewalt allein reyiert ihn. Es gibt in
ihm keine Freiheit, kein verschiedenartiges Leben,
keine organische Gliederung, und auch Gerechtig-
keit nur soweit, als es ihm paßt. Welche Form
der moderne Staat auch annehmen mag, er ist
Absolutismus. Ursprünglich der Absolutismus
des Fürsten (Bonapartismus). Aber da der
Absolutismus seiner Natur nach unersättlich ist,
alles beherrschen will, so bedarf der einzelne Fürst
eines Heeres von Beamten, durch deren Vermitt-
lung er regiert, auf deren Urteil er angewiesen ist,
deren Treue er fast alles anheimstellen muß. Da-
mit entwickelt sich der Beamtenabsolutis-
mus. Er ist die Ursache aller heutigen Unzufrie-
denheit (d. h. zur Zeit Jarckes!) mit dem Staate.
Er führt bei den einen zur völligen Abkehr vom
Staate, zur Anarchie, bei den andern zum Ver-
langen nach Einfluß auf die Regierung, um die
Beamtenwillkür einzuschränken; diese wie jene en-
digen in der Revolution. Und geht aus dieser der
konstitutionelle Absolutismus hervor,
d. h. eine zwischen Bureaukratie und Parlamen-
tariertum geteilte Willkürherrschaft, so ist nichts
gebessert, sondern es wird nur die Vielregiererei,
dieser Fluch des modernen Staates, vermehrt und
einer Schar unverantwortlicher, rücksichtsloser,
diäten= und stellunglüsterner Demagogen die Bahn
geöffnet. Es ist das System der „zahmen Revo-
lution“, die sich „auf dem koupierten Terrain der
Legalität, in dem Wald der Doktrin, hinter dem
Sumpf der belletristischen Literatur“ verbirgt, wo
sie „sicher wie in Abrahams Schoß ist“, das
System des „schlauen“, doktrinellen Liberalis=
mus, der in seinen Grundsätzen nicht minder ver-
werflich, in seinen Formen aber viel gefährlicher
ist als der Jakobinismus. Die konstitutionelle Be-
wegung der Zeit wird schließlich nur den Erfolg
haben, daß eine Geldaristokratie, die auf
nichts als auf materiellem Besitz beruht, den Ge-
burtsadel verdrängt, dessen Wesen kriegerische Ehre
und eine feste, sich vererbende Weltanschauung ist.
Das ist ihr Grundfehler! „Englische Verfassung
auf dem Kontinent spielen wollen ohne Aristo-
kratie, ja mit dem ausgesprochenen Haß gegen
jede Aristokratie, ist noch widersinniger als Bona-
partismus machen wollen ohne Bonaparte.“ Es
gibt gegen die Ausnutzung der Konstitutionen
durch die Geldaristokratie kein Mittel; denn wir
sind keine Republikaner, die individuelle Selbst-
sucht hat allen Korporationsgeist in uns erstickt.
Die Bindung aber der politischen Rechte an den
Besitz hat erst die zerstörende moderne Scheidung
zwischen Armen und Reichen geschaffen, die zum
Kampfe wider das Eigentum führen muß. Der
vierte Stand wird sich erheben. Er ist von Natur
zur Regierung unfähig, weil körperliche Arbeit auf
die Dauer die Geistesfähigkeiten mindert; er muß
also bevormundet werden — doch durch wen?
Jarcke.
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Durch die Klassen, denen er dient? Der Fürst
allein kann ihm gegenüber gerecht sein. Wer aber
auch schließlich an der konstitutionellen Verfassung
teilhaben möge, der Parlamentarismus
wird immer in seiner Tätigkeit für das Volkswohl
scheitern; denn sein Wesen ist das Kompromiß-=
schließen, um aktionsfähig zu bleiben, und eben
dies ist wider alle gesunde Politik. Alle wirkliche
Volksvertretung kann nur Interessenvertre-
tung, nicht ein Konglomerat künstlicher politischer
Parteien sein; über Interessengegensätze jedoch darf
nicht abgestimmt, d. h. nicht durch brutale Mehr-
heitsbeschlüsse entschieden werden. Auch hier bleibt
zu einer wahren Ausgleichung nur der Fürst.
Das Positive des Jarckeschen Systems ist dürf-
tig. Er wehrt sich dagegen, daß er eine Konter-
revolution erstrebt; aber vergebens beteuert er,
durch die Anerkennung der öffentlichen Meinung,
wie sie in Presse und Schule sich äußert, oder
durch bloße Anerkennung alles dessen, was gegen-
wärtig zu Recht bestehe, sei es auch revolutionären
Ursprungs, wider Voreingenommenheit der mo-
dernen Entwicklung gegenüber geschützt zu sein.
Die geschichtliche Notwendigkeit, mit
der sich das Wesen der Staaten auf Grund re-
ligiöser, wirtschaftlicher und sozialer Umwand-
lungen geändert hatte, bleibt ihm verschlossen.
Ein einziges Mal spricht er davon, daß die alten
Formen wohl nicht untergegangen sein würden,
wenn der belebende Geist nicht längst daraus
entschwunden gewesen wäre; aber das läßt ihn
nur um so mehr darauf warten, daß das rechte
Neue durch „unvorhergesehene Menschen“ uns ge-
geben würde. Er fordert inzwischen möglichste
Einschränkung der staatlichen Tätigkeit, Bildung
freier Institutionen und innerhalb des staatlichen
Gebietes eine durch beratende Volksvertretung
beschränkte Souveränität der Krone.
Auch unsere Anschauungen von der so gegen-
sätzlichen innern Entwicklung der beiden großen
deutschen Staaten, deren einem er nach Geburt
und Bildung und deren anderem er durch seine
Haupttätigkeit angehörte, bereichert Jarcke nicht
wesentlich. Er gibt zu, daß Preußen frischer,
freier, Ratschlägen zugänglicher ist; seit 1837
schließt er sich jedoch gegen den Staat ab, der
„mit dem Protestantismus fällt und steht“. In
Osterreich aber war es ihm bis 1848 immer un-
behaglich; er hatte die ideale Vorstellung der deut-
schen Katholiken des Reichs von dem Kaiserstaat
mit dorthin gebracht und klagte dann bitter seine
Enttäuschung.
Mit dem Jahre 1837 sammelten sich Jarckes
Gedanken fast ganz auf einen einzigen Punkt seines
Staatssystems: das Verhältnis des Absolutismus
und Liberalismus zur Kirche. Und hier spricht aus
ihm nur noch die Bitterkeit, wird er auch gegen
den Protestantismus hart und feindselig. Das
Jahr 1837 hatte ihn tödlich erschreckt; denn er war
fest überzeugt gewesen, daß der kirchliche Gegensatz
in Preußen das Gebiet der praktischen Politik nicht