Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Jarcke im modernen Staate. Er setzt eine vorgeb- 
liche Staatsnotwendigkeit vor das Recht des ein- 
zelnen; er ist von Natur aus machiavellistisch, die 
faktische Gewalt allein reyiert ihn. Es gibt in 
ihm keine Freiheit, kein verschiedenartiges Leben, 
keine organische Gliederung, und auch Gerechtig- 
keit nur soweit, als es ihm paßt. Welche Form 
der moderne Staat auch annehmen mag, er ist 
Absolutismus. Ursprünglich der Absolutismus 
des Fürsten (Bonapartismus). Aber da der 
Absolutismus seiner Natur nach unersättlich ist, 
alles beherrschen will, so bedarf der einzelne Fürst 
eines Heeres von Beamten, durch deren Vermitt- 
lung er regiert, auf deren Urteil er angewiesen ist, 
deren Treue er fast alles anheimstellen muß. Da- 
mit entwickelt sich der Beamtenabsolutis- 
mus. Er ist die Ursache aller heutigen Unzufrie- 
denheit (d. h. zur Zeit Jarckes!) mit dem Staate. 
Er führt bei den einen zur völligen Abkehr vom 
Staate, zur Anarchie, bei den andern zum Ver- 
langen nach Einfluß auf die Regierung, um die 
Beamtenwillkür einzuschränken; diese wie jene en- 
digen in der Revolution. Und geht aus dieser der 
konstitutionelle Absolutismus hervor, 
d. h. eine zwischen Bureaukratie und Parlamen- 
tariertum geteilte Willkürherrschaft, so ist nichts 
gebessert, sondern es wird nur die Vielregiererei, 
dieser Fluch des modernen Staates, vermehrt und 
einer Schar unverantwortlicher, rücksichtsloser, 
diäten= und stellunglüsterner Demagogen die Bahn 
geöffnet. Es ist das System der „zahmen Revo- 
lution“, die sich „auf dem koupierten Terrain der 
Legalität, in dem Wald der Doktrin, hinter dem 
Sumpf der belletristischen Literatur“ verbirgt, wo 
sie „sicher wie in Abrahams Schoß ist“, das 
System des „schlauen“, doktrinellen Liberalis= 
mus, der in seinen Grundsätzen nicht minder ver- 
werflich, in seinen Formen aber viel gefährlicher 
ist als der Jakobinismus. Die konstitutionelle Be- 
wegung der Zeit wird schließlich nur den Erfolg 
haben, daß eine Geldaristokratie, die auf 
nichts als auf materiellem Besitz beruht, den Ge- 
burtsadel verdrängt, dessen Wesen kriegerische Ehre 
und eine feste, sich vererbende Weltanschauung ist. 
Das ist ihr Grundfehler! „Englische Verfassung 
auf dem Kontinent spielen wollen ohne Aristo- 
kratie, ja mit dem ausgesprochenen Haß gegen 
jede Aristokratie, ist noch widersinniger als Bona- 
partismus machen wollen ohne Bonaparte.“ Es 
gibt gegen die Ausnutzung der Konstitutionen 
durch die Geldaristokratie kein Mittel; denn wir 
sind keine Republikaner, die individuelle Selbst- 
sucht hat allen Korporationsgeist in uns erstickt. 
Die Bindung aber der politischen Rechte an den 
Besitz hat erst die zerstörende moderne Scheidung 
zwischen Armen und Reichen geschaffen, die zum 
Kampfe wider das Eigentum führen muß. Der 
vierte Stand wird sich erheben. Er ist von Natur 
zur Regierung unfähig, weil körperliche Arbeit auf 
die Dauer die Geistesfähigkeiten mindert; er muß 
also bevormundet werden — doch durch wen? 
Jarcke. 
  
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Durch die Klassen, denen er dient? Der Fürst 
allein kann ihm gegenüber gerecht sein. Wer aber 
auch schließlich an der konstitutionellen Verfassung 
teilhaben möge, der Parlamentarismus 
wird immer in seiner Tätigkeit für das Volkswohl 
scheitern; denn sein Wesen ist das Kompromiß-= 
schließen, um aktionsfähig zu bleiben, und eben 
dies ist wider alle gesunde Politik. Alle wirkliche 
Volksvertretung kann nur Interessenvertre- 
tung, nicht ein Konglomerat künstlicher politischer 
Parteien sein; über Interessengegensätze jedoch darf 
nicht abgestimmt, d. h. nicht durch brutale Mehr- 
heitsbeschlüsse entschieden werden. Auch hier bleibt 
zu einer wahren Ausgleichung nur der Fürst. 
Das Positive des Jarckeschen Systems ist dürf- 
tig. Er wehrt sich dagegen, daß er eine Konter- 
revolution erstrebt; aber vergebens beteuert er, 
durch die Anerkennung der öffentlichen Meinung, 
wie sie in Presse und Schule sich äußert, oder 
durch bloße Anerkennung alles dessen, was gegen- 
wärtig zu Recht bestehe, sei es auch revolutionären 
Ursprungs, wider Voreingenommenheit der mo- 
dernen Entwicklung gegenüber geschützt zu sein. 
Die geschichtliche Notwendigkeit, mit 
der sich das Wesen der Staaten auf Grund re- 
ligiöser, wirtschaftlicher und sozialer Umwand- 
lungen geändert hatte, bleibt ihm verschlossen. 
Ein einziges Mal spricht er davon, daß die alten 
Formen wohl nicht untergegangen sein würden, 
wenn der belebende Geist nicht längst daraus 
entschwunden gewesen wäre; aber das läßt ihn 
nur um so mehr darauf warten, daß das rechte 
Neue durch „unvorhergesehene Menschen“ uns ge- 
geben würde. Er fordert inzwischen möglichste 
Einschränkung der staatlichen Tätigkeit, Bildung 
freier Institutionen und innerhalb des staatlichen 
Gebietes eine durch beratende Volksvertretung 
beschränkte Souveränität der Krone. 
Auch unsere Anschauungen von der so gegen- 
sätzlichen innern Entwicklung der beiden großen 
deutschen Staaten, deren einem er nach Geburt 
und Bildung und deren anderem er durch seine 
Haupttätigkeit angehörte, bereichert Jarcke nicht 
wesentlich. Er gibt zu, daß Preußen frischer, 
freier, Ratschlägen zugänglicher ist; seit 1837 
schließt er sich jedoch gegen den Staat ab, der 
„mit dem Protestantismus fällt und steht“. In 
Osterreich aber war es ihm bis 1848 immer un- 
behaglich; er hatte die ideale Vorstellung der deut- 
schen Katholiken des Reichs von dem Kaiserstaat 
mit dorthin gebracht und klagte dann bitter seine 
Enttäuschung. 
Mit dem Jahre 1837 sammelten sich Jarckes 
Gedanken fast ganz auf einen einzigen Punkt seines 
Staatssystems: das Verhältnis des Absolutismus 
und Liberalismus zur Kirche. Und hier spricht aus 
ihm nur noch die Bitterkeit, wird er auch gegen 
den Protestantismus hart und feindselig. Das 
Jahr 1837 hatte ihn tödlich erschreckt; denn er war 
fest überzeugt gewesen, daß der kirchliche Gegensatz 
in Preußen das Gebiet der praktischen Politik nicht
	        
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